Am Rande des Abgrundes

Was ist es, was du wirklich willst? Richte diese Frage an dein Innerstes, ehrlich und ständig - und die Antwort kommt.

Was machst du hier auf der Erde? Warum bist du geboren?

Weil dein Wille sich umsetzt. Weil du vergessen hast, was du wirklich willst. So mühe ich mich um Dinge, von denen ich mir etwas verspreche, aber im Grunde dann genau weiss, dass es dies auch nicht mein Daseinszweck darstellt.

Die Wenigsten wissen dies genau; dies ist ihr normaler Zustand. Ein Ausweichen vor dem Wirklichen, sodass man sich im Gewöhnlichen verlieren kann.

Aber in der Tiefe dieses Ichs findet sich ein Wunsch nach unendlicher Freiheit. (denn sie ist die Grundvoraussetzung für Prema)

Wenn du verstehst, dass du immer das lebst, was du dir wünschst, und dir auch das geschieht, was du dir wünschst, dann ist Freiheit deshalb nicht eine Erfahrung von dir, wenn du dir dieses Wunsches nicht vollständig und in jedem Moment bewusst bist. Denn dann okkupieren plötzlich Nebenwünsche, die eigentlich gar nicht die meinen sind, den Platz, der dem Wunsch nach Freiheit gebührte.

Anders gesagt: Wenn du dir dieses Wunsches in jedem Moment vollständig bewusst wärst, dann wäre Freiheit in jedem Moment deine vollständige Erfahrung.

Wir haben noch so viele andere Wünsche in uns. Das "Ich" ist ein kompliziertes Wesen. Wir haben noch Tausende von Wünschen, die sich auch leben, ohne dass wir darüber bewusst sind, dass sie sich leben. Wir sind uns nicht ständig bewusst, was für Wünsche sich da verwirklichen (und am Wenigsten vor ihrer Konsequenz).

Aber es ist ein Gesetz dieser Welt: das, was unsere Erfahrung ist, ist eine Auswirkung unserer Wünsche, die die Ursache davon sind.

Kaum ein Mensch ist bereit zum Urwunsch vorzustossen und sich dessen jeden Moment gewahr zu sein. Dies wäre die spirituelle Treue.

Bis an diesen Punkt könnten wir gelangen in unserer bedingten Identität. Dann kommt das "Ich" an seine Grenzen - und was dann geschieht, ist nicht mehr unsere Angelegenheit. Wir können nicht mehr tun, als diese Bereitschaft im Tageslicht unseres Bewusstseins zu erkennen - in jedem Moment.

Und dann übergeben wir diesen Wunsch, diese Bereitschaft, an Krishna, an den, den ich nicht mehr kontrollieren kann.

Ich kann so bis an den Rand des Abgrundes gelangen, aber ich kann nicht springen. Hier benötige ich Krishnas Hilfe. Das ist das Ende der geglaubten Existenz des Ichs, einer Person, die ein eigenes Leben führte, die einen egoistischen Willen hatte, die ihr Leben kontrollieren konnte, die sich ausserhalb des Planes Gottes gesehen hatte.

Durch die Entfernung von der Realität (da das "Ich" niemals in der Realität steht - selbst wenn es glaubt, ganz nahe dran zu sein) kann ich von diesem "Selbst" nicht so viel erwarten. Von so jemandem kann man nicht die Realität erwarten, und auch nicht das Erkennen der Realität.

Aber am Rand des Abgrundes nimmt die Verdichtung des Ichs ab (in der Bereitschaft nach Hingabe zu Krishna) und man erfährt eine gewisse Durchlässigkeit. Diese dicke Wolkendecke wird transparent - und die Transzendenz leuchtet durch. Aber anstatt die Chance zu nützen, Sri Krishna alles zu Füssen zu legen und ihm zu sagen: "gib mir diesen letzten Stoss" (ccm 22.34), gehen wir oft zurück in die Verdichtung, folge dem Alten, lasse alles wieder zusammensetzen und tun so, als sei nichts geschehen. Es reicht nicht, Einsichten in das "Sein" zu haben, denn die sind von vorübergehender Natur, sind flüchtig, und werden uns wieder verlassen.

Wie viele Menschen haben Einsichten gehabt ohne dass sie auch nur die geringste Frucht getragen haben. Wie kommt das?

Das ist die Kraft des Alten, das einem plötzlich wieder wichtiger ist- der Sog in das Leiden. Das ist die Ignoranz, die die wahre Individualität nicht als wesentlich erkennen will und einen immer wieder zu einem Hobbyspiritualisten macht.

Ein Hobbysucher, der zuerst einmal überleben muss, dann Geld verdienen muss, und sich um seine Partnerschaft kümmern muss, und die Kinder und verschiedene materielle Güter, die man so angehäuft hat...und das Weingut...

und dann irgendwann, wenn dann noch Zeit übrig bleibt, sich der ewigen Wirklichkeit widmet.

So verschiebt sich unsere Sichtweise der Realität. (BG 2.16)

Aber in der Bewusstheit meines wirklichen Wunsches geschieht einem dies nicht.

Es braucht die Erinnerung daran - in jedem Moment.

man mana bhava mad bhakto... (Bg 18.65)

Es ist die Vergessenheit, die das grösste Gift der Menschheit ist - und deren Überwindung liegt nur in der Erinnerung.

smartavyah satatam vishnuh

Diese Erinnerung ist manchmal wie ein schmerzhaftes "Aufgerüttelt werden" aus einer Betäubung, aus einem Schlaf, aus einer Welt, die nicht wirklich existierte, doch die sich in den falschen Hoffnungen meiner Selbst zusammengesetzt hat.

Die unzähligen Wünsche des "Ichs" sind vergleichbar mit einer Schädlingsplage: wenn ich nur einige wenige Larven übrig lasse, geht die Plage wieder von vorne los. Es reicht nicht, in einer Einsicht zu landen und sich dann wieder dem alten zuzuwenden. Das Ich wird nur zu Ende sein, wenn ein Mensch alles gibt, was er hat, alles gibt, was ihm zur Verfügung steht, wenn es nichts mehr gibt, was er zurückhält, wenn es nichts mehr gibt, was er von diesem Feuer bewahren will, das alles mit sich reisst.

Nur diese Haltung ist es, die jede Idee einer persönlichen (maskenhaften) Existenz auslöscht und die svarup offenlegt. Aber den meisten Menschen geschieht das, was gerade in dem Bild der Schädlinsbekämpfung beschrieben wurde: überall ein bisschen streuen, aber einige wenige Larven bleiben übrig, die sich erneut ausbreiten werden. Und die Geschwindigkeit der Ausbreitung dieses "Ichs" ist unglaublich.

Kaum hat man sich umgesehen, da hat es sich bereits innerlich ausgebreitet, einen Raum eingenommen, und man tut Dinge, die einem gerade eben noch unvorstellbar erschienen.

Ich kann es mir nicht erlauben, diese Ausbreitung durch die innere Abwesenheit zuzulassen.