Parade der Ameisen


 (Aus dem Brahma Vaivarta Purana, Krishna janma khanda, 47.50-161, nacherzählt von H. Zimmer)

Nachdem Indra einen grossen Asura (widergöttliches Geschöpf) getötet hatte, priesen ihn die Gottheiten in den Himmeln als ihren Retter. Stolz über seinen Triumph und im Bewusstsein seiner Stärke rief er Vishvakarman, den Gott der Künste und Handfertigkeiten, zu sich und befahl ihm, einen Palast zu errichten, wie es noch nie einen gegeben hatte in den Himmelswelten.

Vishvakarmans wunderbarem Genius gelang es in einem einzigen Jahr eine strahlende Residenz zu errichten, leuchtend von Palästen und Gärten, Seen und Türmen. Aber wie das Werk fortschritt, wurden Indras Wünsche immer anspruchsvoller, und seine Phantasien entfalteten sich zu immer erhabenerer Grösse. Er verlangte neue Terrassen und Pavillons, mehr Teiche, Grotten und Schmuckplätze. Immer wenn Indra kam, um Vishvakarmans Arbeit zu loben, entwickelte er Vision über Vision von Wundern, die noch zu vollbringen wären. Endlich, zur Verzweiflung gebracht, entschloss sich der göttliche Baumeister, Hilfe von oben zu suchen und sich an den Weltenbildner Brahma, die allererste Existenz in diesem Universum, zu wenden. Er residiert weit oberhalb der wirrenreichen Sphären der Götter, in welcher auch noch Ehrgeiz, Wetteifer und Ruhmsucht existieren.

 

Als Vishvakarman heimlich zu dem höheren Göttersitz wandelte und seine Beschwerde vortrug, tröstete Brahma den Bittsteller. „Du sollst bald von deiner Last erlöst werden“, sagte er, „gehe in Frieden.“ Vishvakarman eilte wieder abwärts zur Stadt Indras. Brahma aber erhob sich zu einer noch höheren Sphäre und kam vor Vishnu, dem höchsten Wesen, von dem er, der Welten-Schöpfer, selbst nur ein unbedeutender Diener war. In seligem Stillschweigen schenkte ihm Vishnu Gehör und liess ihn durch ein leichtes Neigen seines Hauptes wissen, dass Vishvakarmans Bitte erfüllt werden würde.

 

Früh am nächsten Morgen erschien ein Brahmanenknabe, den Pilgerstab in der Hand, am Palast Indras und bat den Pförtner, dem König seinen Besuch anzumelden. Der Torwächter eilte zu seinem Herrn und Indra ging sofort zum Tor, um persönlich den glückverheissenden Gast zu begrüssen. Der schlanke Knabe, ungefähr zehn Jahre alt, strahlte vom Glanz der Weisheit. Der Knabe begrüsste seinen Gastgeber mit einem freundlichen Blick aus seinen dunklen, glänzenden Augen. Der König verneigte sich vor dem heiligen Kind, das ihn heiter segnete. Beide zogen sich in Indras Halle zurück, wo der Gott seinem Gast mit feierlichen Gaben von Honig, Milch und Früchten den Willkommen bot.

„Verehrungswürdiger Knabe, verkünde mir den Zweck deines Besuches“, sprach er dann.

Das schöne Kind erwiderte mit einer Stimme, die so tief und sanft war wie das leise Donnern segenverheissender Regenwolken: „König der Götter, ich hörte von dem mächtigen Palast, den du erbaust, und bin gekommen, dir die Fragen vorzulegen, die in meinem Gemüt entstanden sind. Wieviele Jahre wird es brauchen, diesen reichen und ausgedehnten Wohnsitz zu vollenden? Welche weiteren Leistungen seiner Kunst werden von Vishvakarman noch verlangt werden? Höchster der Götter“, - im leuchtenden Gesicht des Knaben zeigte sich ein feines, kaum wahrnehmbares Lächeln – „keinem Indra vor dir ist es je gelungen, solch einen Palast zu vollenden, wie deiner werden soll.“

 

Berauscht vom Wein des Sieges in seinen Adern fühle sich der König der Götter belustigt von der Behauptung dieses blossen Knaben, Indras zu kennen, die früher waren als er selbst, und fragt ihn mit väterlichem Lächeln: „Sag mir, Kind, sind sie denn wirklich so zahlreich, die Indras und Vishvakarmans, die du gesehen oder von denen du wenigstens gehört hast?“

 

Der wunderbare Gast nickte ruhig: „Ja. Viele von ihnen habe ich gesehen.“ Die Stimme war so warm und süss wie frische Milch, die eben von der Kuh kommt, aber was sie sagte, sandte einen Schauder durch Indras Adern. „Kindchen“, fuhr der Knabe fort, „ich kannte deinen Vater, Kashyapa, den Herrn und Erzeuger aller Kreaturen auf der Erde; und ich kannte deinen Grossvater, Marichi, den Strahl des göttlichen Lichtes, der Brahmas Sohn war. Marichi war aus dem reinen Geist des Gottes Brahma erzeugt; sein einziger Reichtum und Ruhm waren seine Heiligkeit und seine Hingabe. Auch Brahma kenne ich, das Geschöpf Vishnus, entstanden aus dem Lotoskelch, der aus Vishnus Nabel wuchs. Und Vishnu selbst, das höchste Wesen, das Brahma in seinem schöpferischen Walten leitet, trägt und stützt, auch ihn kenne ich.

König der Götter, ich habe die furchtbare Zerstörung des Alls miterlebt. Am Ende jedes Kreislaufes habe ich wieder und wieder alles vergehen sehen. In dieser schrecklichen Stunde löst sich jedes Atom in die reinen jungfräulichen Wasser der Ewigkeit auf, woher ursprünglich alles entstieg. Alles sinkt dann zurück in die unergründliche wilde Unendlichkeit des Urozeans, der leer von jedem Zeichen belebten Seins ist und unter äusserster Dunkelheit begraben liegt. Wer will die Welten zählen, die vorübergegangen sind oder die Schöpfungen, die sich wieder und wieder aus dem formlosen Abgrund der weiter Wasser erhoben haben? Wer will die stets wieder vergehenden Zeitalter der Welt zählen, wie sie endlos aufeinander folgen? Und wer will die weiten Unendlichkeiten des Raums erforschen, um all die Universen säuberlich zu zählen, von denen jede ihren Brahma besitzt? Wer will all die Indras in ihnen zählen, die alle gleichzeitig in diesen unzählbaren Welten herrschen; jene anderen, die vor ihnen waren, oder selbst die Indras, die einander in ihren Bahnen folgen, jeder zum Götterkönigtum aufsteigend und jeder wieder vergehend? König der Götter, unter deinen Dienern behaupten manche, es sei möglich, die Sandkörner auf Erden und die Regentropfen, die vom Himmel fallen, zu zählen. Aber niemand wird jemals all jene Indras aufzählen können. Dies wissen die Wissenden.

Leben und Herrschaft eines Indras dauern 71 Äonen (Yuga-zyklen von je 4´432´000 Jahren), und wenn 28 Indras erloschen sind, ist ein Tag Brahmas vorüber. Seine Nacht geht eben solange. Aber das Dasein eines Brahma in solchen Brahma-Tagen gemessen, ist nur 100 Jahre lang. Brahma folgt auf Brahma; der eine sinkt, der nächste steigt auf; ihre endlose Reihe fasst kein Bericht. Die Zahl dieser Brahmas ist unendlich – wie könnte man denn die Indras zählen?

 

Jenseits der fernsten Schau, jenseits der äussersten Räume kommen und gehen die Welten. Eine unzählbare Schar. Gleich zierlichen Booten schaukeln sie auf den grundlosen reinen Wassern, auf welchen der Leib Vishnus schläft. Aus jeder Pore seines unendlichen Leibes sprudelt ein Universum hervor und entwickelt sich. Willst du es unternehmen, sie zu zählen? Kannst du die Götter in all diesen Welten nennen, in den heutigen und denen, die längst vergangen sind?“

Während der Rede des Knaben war ein Zug Ameisen in der riesigen Halle erscheinen und marschierte in militärischer Ordnung, über den Flur. Die gigantische Halle wurde schwarz vor lauter Ameisen. Als Indra sie bemerkte, schwieg der Knabe und blickte vor sich hin. Dann lachte er plötzlich überraschend laut, um gleich darauf in ein tief einwärts gerichtetes, gedankenvolles Schweigen zu versinken.

„Warum lachst du?“ stammelte Indra. „Wer bist du, geheimnisvolles Wesen, das sich täuschend als Knabe verkleidet?“ Lippen und Kehle des stolzen Königs waren wie ausgetrocknet, und seine Stimme drohte zu versagen. „Wer bist du, Meer der Tugend, in trügerischem Nebel verborgen? Und was sind das plötzlich für Ameisen?“

 

Der herrliche Knabe begann wieder: „Ich lachte, wegen der Ameisen. Den Grund dieser Parade der Ameisen darf ich dir nicht sagen; bitte mich nicht, ihn dir zu enthüllen. Der Same des Leides und die Frucht der Weisheit sind in diesem Geheimnis eingeschlossen, das wie mit einer Axt den Baum der weltlichen Eitelkeit umstürzt, seine Wurzeln abhackt und seine Krone knickt. Dieses Geheimnis ist ein Licht für die in Unwissenheit Tastenden. Es liegt in der Weisheit der Zeiten verborgen und wird selbst Heiligen selten offenbart. Dieses Geheimnis ist Atemluft für die Asketen, die das sterbliche Dasein aufgeben und überwinden: aber die von Verlangen und Stolz eingelullten Weltlinge zerbricht es. Sie könnten ihren Enthusiasmus für das weltliche Leben nicht weiter aufrecht erhalten, wüssten sie dieses Geheimnis.“

Der Knabe lächelte und sank in das Schweigen zurück. Indra sah ihn an, unfähig sich zu rühren. „Brahmanensohn“, flehte der König dann mit neuer und sichtbarer Demut, „ich weiss nicht, wer du bist. Du scheinst mir die mundgewordene Weisheit zu sein. Enthülle mir dieses Geheimnis der Zeiten, dieses Licht, welches das Dunkel vertreibt.“

 

Aufgefordert ihn zu belehren, öffnete der Knabe dem Gott die verborgene Weisheit: „Jede einzelne dieser Ameisen, die gerade in langer Parade vorbeiziehen war einst vor Äonen ein Indra. Gleich dir erhob sich jeder durch das Verdienst frommer Handlungen einstmals zum Rang des Götterkönigs. Doch nun, durch viele Wiedergeburten hindurch, ist jeder wiederum eine Ameise geworden. Diese Heerschar der Ameisen ist eine Armee früherer Indras.

Frömmigkeit und edle Handlungen erheben die Bewohner der Welt zu dem strahlenden Land der Götterwohnungen (was Religionen oft als „Himmel“ bezeichnen“), oder auch zu den höheren Reichen Brahmas und Shivas. Nur heilige, ganz Gott geweihte Handlungen erheben sie in die höchste ewig unvergängliche Sphäre Vishnus.

Anhaftung und Wünsche lassen sie wieder in die unteren Welten sinken, in die Gruben von Schmerz und Kummer, in die Wiederverkörperungen zwischen Vögeln und Würmern, in Leibern von Schweinen und wilden Tieren oder unter Bäumen und Insekten.

Durch seine Handlungen erwirbt einer den Rang eines Königs oder Brahmanen oder eines Gottes oder eines Indra oder eines Brahma. Durch seine Handlungen stürzt man in Krankheit, erwirbt Schönheit oder Hässlichkeit oder wird als Ungeheuer wiedergeboren.

Dies ist das ganze Wesen des Geheimnisses. Die klare Erkenntnis dieser langen Wanderung erweckt in der Seele einen Wunsch nach beständiger Freiheit und nicht mehr nur um Annehmlichkeit.Diese Weisheit ist die Fähre, die über das Leidensmeer zur Seligkeit führt.

 

Das Leben im Kreislauf unzähliger Wiedergeburten gleicht einem im Traum geschauten Bild. Die Götter hoch oben, die stummen Bäume und Steine unten sind wie Erscheinungen darin. Aber der Tod verwaltet das Gesetz der Zeit; von ihr eingesetzt ist er der Herrscher aller Dinge. Wie Seifenblasen vergänglich ist das Gut und Übel der Traumwesen. In endlosen Umläufen wechseln das Angenehme und das Unangenehme einander ab. Darum heftet sich der Weise an nichts, weder an das Erwünschte noch an das Unerwünschte. Der Weise ist an überhaupt nichts gefesselt.“

Der Knabe hatte seine schaudererregende Lehre beendet und betrachtete seinen Gastgeber, den König der Götter, ruhig, der sich trotz seines himmlischen Glanzes vor sich selbst zur Unbedeutendheit zusammengeschrumpft fühlte.

Im gleichen Augenblick verschwand auch der Brahmanenknabe, der Vishnu selber gewesen war. Der König, erschrocken und bestürzt, blieb allein zurück.

Er grübelte; das Vorgefallene erschütterte ihn tief, sodass seine gesamte Umgebung und sein Leben ihm nun wie ein Traum erschienen.

Er fühlte nun kein Verlangen mehr, seinen himmlischen Glanz zu vermehren oder den Bau seines Palastes fortzusetzen. Er rief Vishvakarman herbei, begrüsste ihn gnädig mit honigsüssen Worten und überhäufte ihn mit Juwelen und kostbaren Geschenken. Dann gar er ihm ein prunkvolles Fest und entliess ihn.

Nachdenklich blieb er zurück….

Anmerkung:

 

In dieser Geschichte eröffnet sich uns der Pulsschlag eines anderen Raum und Zeitgefühls. Die Geschichte des Weltalles in seiner periodischen Wandlung von Entwicklung zu Auflösung wird als ein Prozess stufenweiser und unaufhaltsamer Zerfalls und Aufsplitterung aufgefasst. Erst nachdem alles seinen Lauf in die völlige Vernichtung beendet hat, und damit in den Mutterschoss der grenzenlosen, zeitlosen kosmischen Nacht zurückgekehrt ist, erscheint das Weltall wieder in neugeborener, uranfänglicher herrlicher Vollendung. Woraufhin mit dem ersten Zeitschlag der unumkehrbare Prozess von neuem beginnt. Die Biografie eines Menschen ist immer wertvoll, aber manchmal wertet man die Dramen und eigenen Lebensgeschichten zu stark und sie verbauen Zugang zu einem viel umfassenderen Geschehen. Wir sind offensichtlich nicht die Hauptdarsteller auf der Bühne.

Biografie wäre eigentlich diejenige Form des Sehens, die sich auf das Einzigartige in jedem Teil des Daseins richtet und sich bemüht, aus der Sicht der Gesamtheit in allem den inhärenten Sinn zu erschauen.

Wir machen Wertunterschiede im Vergänglichen und wollen uns mit egozentrischer Hartnäckigkeit gegen diesen  riesigen Fluss der Zeit stellen. Doch dabei verlieren wir die Perspektive für das Ewige, was immer bleibt.

Die Herausforderung unseres Lebens in solchen gigantischen Wandlungsprozessen drin ist nicht, in den Kampf damit zu treten, sondern sich still dem Quell von allem zuzuwenden.

Das Erschauen endloser Wiederholung und ziellosen Wiedererschaffens verkleinerte und vernichtete schliesslich die naive Auffassung des siegreichen Indras von sich selbst und der Fortdauer seiner Macht. Sein Selbstgefühl wurde aufgewertet durch all diese Projekte und deren Aufbau und sein Ich-Begriff dadurch definiert.

Aber als die Zyklen der Vision aufstiegen, öffneten sich Bewusstseinsebenen, in denen Millenien zu Augenblicken, Äonen zu Tagen zusammenschrumpften. Der beschränkte Zustand des Menschen und selbst der Devas in den Götterhimmeln verloren an Realität. Die Lasten und Entzückungen, Erwerbungen und Kümmernisse des Ichs, Sorgen und Stolz über die Errungenschaften – der gesamte Inhalt einer menschlichen Lebenszeit wird so klein und unbedeutend.

Was ihm eben noch so wichtig vorgekommen war, erschien ihm nun nicht mehr denn eine vorüberfliegende Phantasie, kaum entstanden und schon wieder vergangen, unhaltbar wie ein Wetterleuchten.

Diese Toleranz den Dingen gegenüber ist eine erste wesentliche Einsicht des inneren Weges. Denn diese Einsicht macht einen Bewusstseinsraum frei, in welchem Zuwendung zur Wirklichkeit Gottes erfolgen darf.

Die Umwandlung wurde durch eine Verschiebung in Indras Sichtweise erreicht. Das Weiterwerden der Perspektive veränderte die Bewertung jedes Lebensaspektes. Es war, als ob die Berge, so dauerhaft, wenn vom Standpunkt unserer kurzen menschlichen Lebensspanne betrachtet, plötzlich alle auf einmal aus der Perspektive von vielen sich wechselnden Yuga-Zyklen (Weltzeitaltern) betrachtet würden. Sie würden sich wie Wogen heben und senken, das Feste würde als fliessend erscheinen, und die riesigen Berggipfel würden vor unseren Augen dahinschmelzen wie ein Stück Eis in der Sonne.

Jede Erfahrung von Grösse und Wert würde plötzlich verwandelt werden. Der Verstand würde es schwer haben, sich zu orientieren und ebenso die Gefühle.

 

Die Perspektive dieser Unendlichkeit darf einen aber nicht gleichgültig für das hiesige machen… Mit ganzer Aufmerksamkeit und Zuneigung widmet man sich dem, was ansteht.

 

In dem Zusammenspiel zwischen Entgrenzung der Ewigkeit und dem bewusstem Akzeptieren des hiesigen menschlichen Lebens geschieht ein Riss in die Zeit.