Das Prinzip der Entpersönlichung 

 

 

Tiere sind entweder geliebte Haus- und Kuscheltiere oder tauchen unter in einer anonymen Masse, die wir dann töten lassen und auf dem Teller verspeisen.

Diese Irrationalität im Umgang mit Tieren bedeutet, dass man einige Tiere vermenschlicht und zur Kompensation mangelnder sozialer Beziehungen werden lässt und auf der anderen Seite Tiere instumentalisiert für Eigeninteressen. Zwecks Gaumen- und anderen Selbst-Interessen werden sie entindividualisiert. 

 

Unsere Beziehung zum Tier

Der Mensch hat sich eingeredet, die Krönung der Schöpfung zu sein. Anstatt nun voller Mitgefühl und Segen diese Verantwortung anzunehmen, sind wir Ausbeuter geworden und leben eine Weltanschauung, die einen glauben lässt, dass alle anderen Kreaturen nur dazu geschaffen seien, dem Menschen Nahrung und Pelze zu liefern, um gequält und ausgerottet zu werden. Man spricht den Tieren willkürlich ihren eigenen Existenzzweck ab.  

 

In der Bibel (2, 4-25) heisst es, wir sollen uns die Erde untertan machen. Dies bedeutet nicht, wie es in der Moderne verstanden und überhaupt erst möglich geworden ist, sie auszubeuten, sondern sie zu bebauen und zu pflegen. „Herrschen über die Tiere“ heisst, als Ebenbild Gottes für die Tiere Verantwortung tragen, „ihnen Namen geben“ heisst, sich mit ihrem Wesen vertraut zu machen, sie als Teile der Gemeinschaft zu betrachten, ihnen das Recht auf Leben zuzugestehen. 

 

Doch wenn wir über die Beziehung des Menschen zu seinen Mitgeschöpfen, den Tieren, nachdenken, nimmt man in erschreckendem Masse wahr, wie sehr unsere Gesellschaft auf institutionalisierte Gewalt gegen Tiere gegründet ist.

 

Wir befinden uns mit den anderen Geschöpfen dieser Erde im Krieg. Überall hat der menschliche Imperialismus die Tiervölker versklavt, unterdrückt, ermordet und verstümmelt. Überall um uns herum liegen die Sklaven- und Vernichtungslager, die wir für unsere Mitgeschöpfe errichtet haben: Zuchtfabriken und Schlachthäuser – Dachaus und Buchenwalds für die besiegten Arten.

Wir schlachten Tiere, um sie zu essen, zwingen sie, zu unserem Vergnügen alberne Tricks auszuführen, erschiessen sie im Namen des Sports und rammen ihnen Haken ins Fleisch. Ihre ursprüngliche Heimat haben wir annektiert. 

 

Das Angewöhnte ist bequem. Die Frage des Gewissens aber lautet: Ist es gerecht?

Alles, was das Tier kann, darf es auch. Der Mensch kann viele Dinge, die er nicht darf. 

 

Domestizierung von Tieren

Die Ausbeutung von Ziegen, Schafen, Schweinen, Rindern und anderen Tieren zwecks Gewinnung von Fleisch, Milch, Fell und Leder – euphemistisch „Domestizierung“ genannt – begann vor ungefähr 11'000 Jahren im Zweistromland. 

 

Der Übergang der nomadisierenden Völker zu Ackerbau und Viehzucht vollzog sich langsam. Jäger, die wilde Schafe erlegten, konzentrierten sich auf eine bestimmte Herde; diese wurde dann „ihre“ Herde, der sie folgten und für sich beanspruchten. Da sich Jungtiere leichter einfangen und domestizieren liessen, töteten die ersten Hirten die erwachsenen Tiere, die ihre Jungen beschützten, fingen den Nachwuchs ein und hielten ihn fern von seinem natürlichen Lebensraum. Während sie die Tiere wegen ihres Fleisches töteten, Milch und Wolle von ihnen gewannen oder ihre Arbeitskraft nutzten, lernten die Hirten, den Bewegungsdrang, die Ernährungsweise, das Wachstum und die Vermehrung der Tiere mittels Kastration, Fussfesseln, Brandzeichen, Ohrmarkierungen und Gerätschaften wie Lederschürzen, Peitschen, Ochsenziemern und schliesslich Ketten zu kontrollieren. 

Das Tier wurde zum Sklaven des Menschen. 

 

Die Domestizierung der Tiere hatte Auswirkung auf die Beziehungen der Menschen sowohl zu ihren gefangenen Tieren als auch zueinander. 

Kaum waren die Tiere domestiziert, bauten die Hirten und Bauern mit Hilfe von Gleichgültigkeit, Rationalisierung, Leugnung und Beschönigung eine emotionale Distanz zu ihren Gefangenen auf. 

 

Die Beziehung der Menschen zu anderen Lebewesen wurde zu derjenigen, die sie heute ist – eine von Macht, Kontrolle und Manipulation geprägte Beziehung.

Gewalt erzeugt Gewalt. So hat die Versklavung der Tiere zu einem grösseren Mass an Herrschaft und Zwang in der menschlichen Geschichte geführt. Sie liess repressive, hierarchische Gesellschaften entstehen und entfesselte gewaltige, zuvor unbekannte Kriege. Im Übergang zur Viehzucht hat auch im politischen Leben eine herrschsüchtige Denkweise Einzug gehalten. 

Die Domestizierung der Tiere förderte eine autoritäre Denkweise, weil die Herrschaft des Menschen über die niedrigeren Geschöpfe das geistige Analogon für die Ausbeutung der Menschen lieferte. Er erlernte, Unrecht mit der Begründung seiner Machbarkeit zu legitimieren. 

 

Mit der Entscheidung für die intensive Viehzucht hat der Mensch begonnen, Unbarmherzigkeit, Gleichgültigkeit und gesellschaftlich akzeptierte Gewalt und Grausamkeit sich ins Mark der Kultur einzuschreiben. Dadurch wurde die Bande der umfassenden Verwandtschaft mit anderen Bewohnern dieser Erde zerschnitten.

 

Einmal institutionalisiert und als Bestandteil der natürlichen Ordnung akzeptiert, öffnete die Ausbeutung der Tiere die Tür zu einem ähnlichen Umgang mit Menschen und ebnete damit den Weg zu weiteren Abscheulichkeiten.

 

Die Unterdrückung der Tiere fungierte als Modell und Trainingsgelände für die Geisteshaltung der Ausbeutung anderer, wenn es für die persönlichen Interessen nützlich scheint. Im Umgang mit Tieren musste der Mensch Teile seiner Empfindungsfähigkeit und Mitgefühl abtöten. Die Beteiligung an Praktiken, die Grausamkeit, Schuldbewusstsein und schliesslich Gefühlslosigkeit zur Folge hatten, bleibt nicht bei Tieren stehen, sondern kippt dann auf die eigenen Artgenossen über.

 

Karl Jacoby schreibt in seinem Buch „Slaves by nature?“, dass es „nicht ein Zufall ist, dass aus jener Region, aus der die ersten Indizien für die Viehzucht stammen, dem nahen Osten, auch die ersten Indizien für Sklaverei kommen.“

 

Sklaven als Haustiere

In Sklavenhaltergesellschaften hielt man die Sklaven mit denselben Methoden unter Kontrolle wie die Tiere – man kastrierte sie, brandmarkte sie, peitschte sie aus, legte sie in Ketten und schnitt ihnen die Ohren ab. Das Postulat der menschlichen Vorherrschaft, mit dem die Menschen sich von der Fürsorge und Verantwortung für die Tiere lossagten, legitimierte auch die Misshandlung jener Menschen, die angeblich auf der Stufe von Tieren standen. 

 

In den europäischen Kolonien war die Sklaverei mit ihren Märkten, ihren Brandmalen und ihrer immerwährenden Arbeit eine Form des Umgangs mit Menschen, die man als Tiere betrachtete. 

 

Entpersönlichung

In „politics and language“, einer im Jahre 1946 veröffentlichten Abhandlung, machte George Orwell deutlich, inwiefern politische Schriften und Reden oft die „Rechtfertigung des nicht zu Rechtfertigenden“ sind, das heisst, dass sie sich korrupter Sprache, Weitschweifigkeit, abgedroschener Ausdrücke, verschwommener Begriffe, Zweideutigkeit und sprachlicher Beschönigungen bedienen. 


Es macht es uns leichter,  Tiere oder Menschen zu töten, wenn wir sie uns nicht als solche vorstellen. Durch die euphemisierte Sprache machen wir sie zu weniger als dem, was sie sind. 

 

Die Entpersönlichung der Tiere begann schon mit Aristoteles, der den Tieren Vernunft absprach und sie der Kategorie der unbeseelten Gegenstände zuordnete.

Aristoteles schrieb in seiner „Politik“ (1. Buch, Kapitel 8), Tiere seien „der Menschen wegen da“; „die Natur habe sie alle um der Menschen willen gemacht.“ 

 

Damit wurde die Grundlage des Reduktionismus gelegt, einer Sichtweise der Welt, in der die Natur nur deswegen existiert, um den Interessen des Menschen zu dienen. Der inhärente Sinn in den Dingen wird nicht berücksichtigt und gänzlich übergangen. Man schafft sich den Sinn selber und fragt und forscht nicht nach der Absicht ihres Herstellers, ihres Schöpfers.

 

Aristoteles behauptete, die Herrschaft des Menschen über die Tiere erstrecke sich auch auf die Sklaven und beinhalte zudem die Herrschaft des Mannes über die Frau. 

Er schreibt: „Menschen, die hinter anderen zurückstehen, ähneln domestiziertenTieren, weil sie Sklaven von Natur aus sind.“ Seine Pflichten unterschieden sich nicht von denen eines Arbeitstieres, und seine Erwerbung lässt sich mit der Jagd vergleichen.“ („Politik“, 1. Buch Kapitel 5)

 

Diese Denkweise impliziert, man könne Tiere für seine eigenen Zwecke nutzen ohne Unrecht zu tun. Wie unser heutiges Recht klassifizierte auch das römische Recht Tiere als Eigentum und folglich als Sache ohne eigene Rechte. 

Das Christentum übernahm diese Doktrin von der Vormachtstellung des Menschen.

Augustinus (354-430) schrieb, das sechste Gebot („Du sollst nicht töten“) gelte nur auf Menschen, nicht für „vernunftlose Wesen, ob sie nun fliegen, schwimmen, laufen oder kriechen. Die gerechte Anordnung des Schöpfers hat ihr Leben und ihr Sterben unserem Nutzen angepasst.“ (Augustinus, „der Gottesstaat“, 1, 20)

 

Der mittelalterliche Theologe Thomas von Aquin (1225-1274) erklärte, es sei nicht verwerflich, Tiere zu töten, denn sie seien nicht um ihrer selbst willen, sondern für den Menschen erschaffen.“ (zitiert in Salisbury „Beast within“, S. 16)

Er stellte nicht nur in Abrede, dass Tiere Vernunft besässen, sondern sprach ihnen auch ein Leben nach dem Tod ab. Das heisst, man könne sie bedenkenlos und straflos erschlagen. Genau dies dachten die europäischen Einwanderer zur Zeit ihrer ersten Begegnungen mit den Eingeborenenvölkern von Afrika, Asien und Amerika. 

Rene Descartes ausgearbeitete Doktrin lautete, „Tiere sind reine Maschinen oder Automaten, wie Uhren, fähig zu komplexem Verhalten, aber ganz und gar ausserstande zu sprechen, vernünftig zu denken und sogar etwas zu fühlen.“

Descartes Schüler behaupteten, Tiere empfänden keinen Schmerz, und ihre Schreie und ihr Gezappel seien rein äusserliche, mit keinerlei inneren Empfindungen verbundene Reflexe.

Die Rechtfertigung der menschlichen Vorherrschaft geht voran und befreit sich gleichzeitig auch immer mehr vom Verdacht eines Verbrechens. 

Edgar Koberwitz (Vegetarier, Pazifist und Kriegsdienstverweigerer) schreibt, nachdem er fünf Jahre Konzentrationslager der Nazis überlebt hatte, über die Grausamkeit des Tötens von Tieren. Er erwähnt die süsse, lockende Stimme der Bäuerin, die den Hühnern goldene Körner hinstreut, sie dann an der Gurgel packt und tötet. „Ja, - ich fürchte mich vor diesen Händen. Sollten sie nicht zur ähnlichen Tat am Menschen fähig sein? Du sagst nein,  - ich sage ja! Denn alles beginnt im Kleinen, alles lernt man im Kleinen, ….auch das Töten.“

 

Kolonialismus

Nachdem die Tiere bereits als niedrigere Lebensform eingestuft worden waren, der es bestimmt war, ausgebeutet und geschlachtet zu werden, ebnete der Vergleich minderwertiger Menschen mit Tieren den Weg zur Unterjochung und Vernichtung dieser Menschen. In „Genocide. Its political use in the twentieth century“ schreibt Leo Kuper: „Die Tierwelt war eine fruchtbare Quelle von Metaphern der Entmenschlichung, sodass Menschen, die man als Tiere bezeichnete, wie Tiere gejagt und zur Strecke gebracht werden konnten.“

 

Hat man einmal die Entpersönlichung der Tiere etabliert, braucht man die menschlichen Feinde nur noch als Tiere zu bezeichnen und das Massaker verliert den Charakter des Massakers.

 

Bartolome de las Casas (1474-1566) beschreibt die spanischen Gräueltaten auf ihren Eroberungszügen in Südamerika. „Die Spanier, welche zu Pferde und mit Schwertern und Lanzen bewaffnet waren, richteten ein greuliches Gemetzel und Blutbad an. Sie drangen unter das Volk, schonten weder Kind noch Greis, weder Schwangere noch Entbundene, rissen ihnen die Leiber auf, und hieben alles in Stücke – nicht anders, als überfielen sie eine Herde Schafe.“

Dem Biografen Himmlers, Richard Breitmann, zufolge betrachtete Himmler seine Opfer nicht als Menschen, daher liessen ihn ihr Leid und ihr Schicksal völlig kalt. „Er sah in ihnen Ungeziefer und Schädlinge, wie jeder Landwirt sie vernichten musste, wenn er sich und seine Familie ernähren wollte.“ („Heinrich Himmler – der Architekt der Endlösung“ S. 327)

 

Die Entpersönlichung, die mit Tieren eintrainiert wurde, nimmt ihren Lauf. Nirgends ist die eiserne Faust so unverhüllt wie in der Unterdrückung von Tieren, welche als Trainingsfeld für weitere Formen der Unterdrückung dient.

 

Der Gedanke der rücksichtslosen Ausbeutung, ist er einmal im Umgang mit Tieren eingeübt, überträgt sich auf Menschen.

 

Die Gewohnheit, zerschnittene und zerteilte Tierkörper auf dem Teller zu haben, reduziert die natürliche Schwelle der inhärenten Abneigung gegen das Töten und man verliert die Achtung vor dem Leben. Die Gewohnheit des Fleischessens reduziert das Feingefühl für das Verbrechen, das dafür zu geschehen hatte. Denn man war ja der Auftragsgeber für den Mord.

 

„Wenn der Mensch den Tiger umbringen will, nennt man das „Sport“. Wenn der Tiger den Menschen umbringen will, nennt man das Bestialität.“ George Bernhard Shaw

 

Viele Menschen besitzen ein Bewusstsein, das primär auf das eigene Ich gerichtet ist. Man nennt diese Geisteshaltung Solipsismus. Der Solipsist betrachtet Menschen und natürlich auch andere Lebewesen nur aus dem Blickwinkel seiner eigenen Interessen. Das ist die Ausblendung der Wirklichkeit des Anderen. Dies ist die entscheidende Voraussetzung für den Akt seiner Verletzung oder Vernichtung. Sie wird erleichtert, wenn das Opfer von einer anderen Art ist als der Täter oder von diesem als zu einer anderen Art gehörig gedacht und empfunden wird. So werden Menschen zu Untermenschen erklärt oder durch Beschimpfungen, moralische Diskreditierung oder einfach durch die Betonung ihrer Andersheit aus der Gemeinschaft ausgegrenzt. Genauso werden auch die Tiere nicht als Individuen gesehen. Wer diese Wirklichkeit ausblendet oder sie nicht sehen kann, verschont sich vor einem schlechten Gewissen und befindet sich in seiner Vorstellung im Recht. Das ist das Prinzip der Entpersönlichung. 
Das Erkennen des Unrechts ist der erste Schritt hin zu dessen Überwindung.