unerfüllte Wünsche

Die Erfüllung eines Wunsches wird sofort einen weiteren neuen Wunsch nach sich ziehen (duspurena analena ca)
Ich beschäftige mich mit positiven Affirmationen: ich wünsche mir, und das wird auch in Kursen gelehrt, dass ich bald den Traumpartner meines Lebens finde... Siehe da, nach zwei Monaten - es passiert.
Aber nun gehe ich noch einmal zwei Monate weiter: Ganz unbemerkt, ohne dass es mir aufgefallen wäre, ist aus der Erfüllung dieses einen Wunsches bereits die Unerfüllung eines nächst anstehenden Wunsches geworden. Das habe ich gar nicht bemerkt. Ich habe meine Unzufriedenheit nur verlagert.
So arbeiten die unendlichen Ketten von unerfüllten Wünschen, die nichts anderes tun, als sich - in dem Moment, wo ein Wunsch aus dieser unerfüllten Kette scheinbar erfüllt wird - auf eine andere Ebene verlagern.
Diesem Spiel der unerfüllten Wünsche bin ich lange aufgesessen... Wenige durchschauen dieses Spiel - es ist das Spiel der Versuchung.
Ich betrüge mich selber um die Freiheit, die mir zustünde.

Ich leide an der Unerfülltheit meiner eigenen Wünsche. Das ist doch umso erstaunlicher, als dass der unerfüllte Wunsch ja schliesslich vorgibt, aus dem Leiden herauszuführen, nämlich dann, wenn er erfüllt wird. Merkwürdigerweise jedoch passiert das nicht, jedenfalls nicht vollkommen und beständig. Da es nicht vollkommen und beständig geschieht liegt es an mir und meiner Konsequenz, diesen Wunsch aufzugeben oder ihn künstlich aufrechtzuerhalten, was eben fast alle Menschen tun, weil sie nicht wahrhaben wollen, dass dieser Wunsch nicht zum Ziel führt und niemals dorthin führen wird. Man will die Tatsache nicht zulassen, dass im Loslassen des Wunsches mehr Freude inneruht als in seiner Erfüllung.

Ich will nun wachsam sein und den Moment klar erkennen, in dem ein unerfüllter Wunsch im Bewusstsein auftaucht. Dann erkenne ich, dass er Agitation verursacht. Nicht nur später, sondern bereits in dem Moment, in dem ich diesen Wunsch berühre und als den meinen betrachte.
Jeder unerfüllte Wunsch ist der Wunsch zu leiden.
Wenn ich das wahrnehme, frage ich mich, ob ich weiter bereit bin, diese Wünsche zu berühren. Es ist so, als wenn der denkende Geist mir einen Samen des Unfriedens einpflanzt und mir immer wieder weismacht, dass ich kein Recht hätte, in vollkommenem Frieden zu sein.

asantasya kutah sukham (wie kann es Glück ohne Frieden geben?)

Es gibt im gesamten fremden Universum nichts und niemanden, der mich davon abhält, ausser mir selbst.

Ich bemerke dieses kindliche, trotzige Festhalten an unerfüllten Wünschen: "In Wirklichkeit besteht doch noch ein kleines Fünkchen Hoffnung."
Ich halte immer irgendwo noch eine kleine Schublade geheim, für alle Fälle sozusagen. Es verlangt Radikalität von mir, denn ich habe, so wie alle, die Tendenz, mir noch diese kleinen Ecken zu reservieren, wo sich der Staub sammelt, wo niemand gerne hinschaut, die von der Aufmerksamkeit dezent übergangen werden. Genau darin steckt die Notreserve des Leidens.
Wenn ich den falschen Glauben an diese Notreserve klar erkenne, braucht es nur ein Minimum an Selbstrespekt, Konsequenzen zu ziehen.
"Mehr Begehren schafft mehr Leid"
Die meisten Menschen definieren Glück als Befriedigung ihrer Begehren, Erfüllung ihrer Wünsche.
Gemäss Yoga sutras gibt es fünf Arten von Begehren: 
-Nach weltlichem Besitz
-nach Schönheit
-Ehrgeiz
-Genuss am Essen
-Träge zu sein

Diese Begehren sind grenzenlos, während unsere Fähigkeit, sie zu erfüllen, begrenzt ist. Unerfüllte Begehren in sich zu tragen, ist Leid.
Wenn Begehren nur teilweise erfüllt sind, streben wir weiterhin nach ihrer vollständigen Erfüllung und legen so den Grund für weiteres Leiden.
Uns selbst wenn ein Begehren erfüllt ist, leiden wir, wenn es nicht weiterhin ständig erfüllt wird.

Erst wenn wir erschöpft sind durch dieses unablässige Streben, erkennen wir langsam, in welchem Ausmass wir im unersättlichen Netz unserer Begehren gefangen sind. Hier, an diesem Punkt, wird Heilige Sehnsucht geboren.

Dann erkennen wir, dass wirkliches Glück eigentlich ein friedvoller Zustand des Geistes ist, der ja gerade durch das Begehren und dem Kampf gegenüber den Dingen, die meinen Begehren im Wege stehen, verunmöglicht wird, da genau dieses Begehren und das Hassen (sich dagegenstämmen) den Geist agitieren, ihn unruhig machen und somit Leiden erzeugen.


Erst wenn du jedem (materiellem) Wunsch entsagst,
nicht Ziel mehr noch Begehren kennst,
das Ziel nicht mehr mit Namen (dieser Welt) nennst,

dann reicht Dir des Geschehens Flut
nicht mehr ans Herz, und deine Seele ruht. (Hermann Hesse)

"Nur wer durch die unaufhörliche Flut von Wünschen nicht gestört ist-die wie Flüsse in den Ozean münden, der ständig gefüllt wird, doch immer ausgeglichen bleibt, -kann Frieden erlangen, und nicht derjenige, der danach trachtet, solche Wünsche zu befriedigen." (Bhagavad-gita 2. 70)