Spiritualität von unten

Spiritualität kann verschieden Ansätze haben, welche alle interessant und wichtig sind. Dass sie aber ein ganzheitliches Bild in uns generieren, uns dementsprechend zu ganzheitlicheren Personen macht, müssen diese verschiedenen Ansätze in uns integriert werden. Der eine darf von dem anderen nicht ausgeschlossen werden. Einseitigkeit ist nie hilfreich. (BG 6.16-17), aber es geht auch darum, einmal das Spannungsfeld aushalten zu lernen und sich nicht gerade auf der einen Seite zu positionieren und zu identifizieren.

Im Folgenden werden zwei grundlegende Herangehensweisen dargestellt, welche sicher beide ihre Berechtigung haben, aber auch beide ihre Gefahren. Ganzheitliche Spiritualität sucht da eine Harmonisierung der beiden, eine Verbindung zu einer Ganzheit, ein Konvergieren der beiden, dass aber etwas Neues entsteht.

Das ist meiner Ansicht das, was Ken Wilber „integrale Spiritualität“ bezeichnet.

 

 

Spiritualität von oben

Die Spiritualität von oben setzt bei den Idealen an, die von heiligen Schriften und Heiligen Vorbildern inspiriert werden, der Tradition, den Musterbildern innerhalb der eigenen Gemeinschaft, und den Vorstellungen von sich selbst, wie man eigentlich gerne sein möchte.  Sie geht von Zielvorstellungen aus, die der Mensch durch sadhana, durch Bemühung, durch Gebet, durch Askese erreichen sollte. Die hohen Ideale vor Augen zu halten, die wir erreichen wollen und sollen (die vollständige Selbstlosigkeit, Selbstbeherrschung, brahmanische Eigenschaften entwickeln, die ständige Freundlichkeit, Freiheit von Zorn, Überwinden der Sexualität) Die Grundfrage dieses Zugangs der Spiritualität ist: Wie soll ein Vaishnava, ein Diener Krishnas, handeln, wie soll er sein? Was tut er? Welche Haltungen sollte er verkörpern? Arjuna fragt in der Gita (2.54): „Wie spricht jemand, der in Bewusstseinsruhe ist, wie sitzt er, wie bewegt er sich?“

Die Spiritualität von oben entspringt der menschlichen Sehnsucht, immer besser zu werden, immer höher aufzusteigen, Gott immer näher zu kommen.

 

Diese Art der Spiritualität ist sicher gut. Sie fordert uns heraus und spornt uns an, über uns selber hinauszuwachsen und uns den wirklichen Zielen zuzuwenden und sich nicht einfach im Trott der Verweltlichung zu verlieren. Dank ihr beginnen wir hart an uns zu arbeiten. Ohne sie würden wir uns zu oft nur um uns selbst und unsere kleine Welt kreisen. Wir könnten nicht die Möglichkeiten entdecken, die in uns latent schlummern und an denen wir ohne die Spiritualität von oben vielleicht vorbeileben würden. Es ist die Option, dass wir jetzt ein ganz anderes Leben führen könnten. Sie lockt uns heraus, dass wir die Trägheit überschreiten, das Gewohnte überwinden. Sie ist ein Ansporn, an uns zu arbeiten, unsere Berufung zu entdecken. Wir haben mehr Möglichkeiten als wir denken – ganz zu schweigen von den Möglichkeiten, die Krishna in uns sieht. An ihr lernen wir, aufzuschauen, und uns begeistern zu lassen, unsere Fähigkeiten zu erweitern. Die Orientierung am Letztendlichen generiert eine Kraft in uns, denn wo ein Weg ist, da wird ein Wille wach. Die Funktion der Spiritualität von oben ist, dass sie in uns eine Lebendigkeit erwecken soll, neue Perspektiven eröffnen und letztlich die Sehnsucht nach Radha-Krishna, unserem ewigen Zuhause zum brennen bringen soll.

 

Sie kann aber auch krankmachend werden, zu einer „Holzwegvollkommenheit“ degradieren – nämlich dann, wenn das Ausrichten auf die Ideale den Kontakt zur eigenen Wirklichkeit überspringen möchte, wenn man die Verbindung zum eigenen Selbst verliert. Dann wird auch das äusserlich beeindruckende Gebäude von den wunderbarsten spirituellen Konzepten zur Ausweichung der Selbstbegegnung und das eigene spirituelle Leben wird schwächlich. Es ist nun nicht mehr der Pfad einer Gottesbegegnung, sondern oft nur noch ein Kampf, die Hülle noch irgendwie aufrechtzuerhalten.

 

Ich kann meinen Weg zu Gott nicht einfach erarbeiten, was manchmal in der Spiritualität von oben den Anschein macht – und wenn es nicht mehr geht, wenn man die Unmöglichkeit des Vorhabens innerlich spürt, einfach noch einmal ein wenig mehr Bemühung darauf setzen, sich noch einmal richtig anstrengen. Das führt zu einer Überforderung bis hin zum Kollaps anstatt zu Bhakti, reiner Gottesliebe.

Wir können die Transzendenz mit der eigenen Anstrengung nicht erreichen. Das Paradoxe ist, dass uns aller Kampf und alles Bemühen nur dahinzu führt, einzugestehen, dass wir Bhakti, den Heiligen Namen, nicht erzeugen und produzieren können, sondern dass wir Sri Krishna in all diesen Anstrengung nur unseren ernstgemeinten Willen hinlegen, unsere echte Bereitschaft, die nun nicht einfach mehr nur ein Lippenbekenntnis ist. Aber wir kommen an die Grenze, wo wir nur eingestehen können, dass wir aus eigener Kraft notwendigerweise scheitern werden. Das ist das Umfeld, in welcher Offenbarung geschehen darf.

 

In der Spiritualität von oben existiert auch die Gefahr, seine Realität zu überspringen und sich zu sehr mit den Idealen zu identifizieren, dass wir eigene Grenzen und Schwächen verdrängen. Dies führt zu einer Spaltung (einem inneren Zwiespalt zwischen unseren Zielen und unserer gegenwärtigen "Wirklichkeit"), bis hin zu einem Zerreissen. In diesem „Gespalten-Sein“ wird der Mensch kränklich und schwach. Das Identifizieren mit dem Ideal geschieht dann sehr schnell, wenn man bemerkt, dass es praktisch unerreichbar weit weg ist, aber man möchte ja auch nicht resignierend aufgeben. Dann bietet es sich an, die eigene Wirklichkeit zu verdrängen und im Ideal zu leben.  Die Spaltung führt dazu, auf zwei Ebenen zu leben, die nichts mehr miteinander zu tun haben bis hin zur Blindheit für die eigene Situation – hier ist die „Selbsterkenntnis“ zu einem „spirituellen Anartha“ (Hindernis) geworden, die im „Madhurya Kadambini“ als „taranga rangini“ beschrieben werden. Zum anderen kann der eigene Schatten auch auf andere übertragen werden. Weil wir oft nicht zugeben können, dass wir dem Ideal nicht entsprechen, projizieren wir unsere eigene Schwäche, unser Unvermögen auf andere Mitmenschen, was zur Folge hat, dass man ihnen gegenüber hart wird. Man will sich über sie erheben. Das erkennt man in der erstaunlichen Aggressivität, die manchmal gerade fromme Kreise durchzieht.

Wer sich häufig mit den Idealen identifiziert, verdrängt oft seine eigene Wirklichkeit, die diesen Idealen nicht entspricht, oder die Teile, die da noch nicht deckungsgleich sind. Wahrheit ist nur zu erlangen über ehrliche Selbsterkenntnis und nicht in der Selbstprojektion auf die Ideale.

Manche, die Idealen nachstreben, verlieren dadurch die Berührung mit ihrem eigenen Wesen. Sie benützen die spirituellen Idealvorstellungen, um ihrem Ehrgeiz zu genügen.

Im Kopieren von Heiligen, imitieren wir äusserliches Verhalten, aber das kann uns nicht zu dieser Liebe führen, zu ihrer Bhava, die diese Heiligen in ihrem Innern erleben.

Das Bhagavatam (10.33.30-31) warnt, dass man das Verhalten von Heiligen Persönlichkeiten nicht einmal im Geist imitieren, sondern ihren Anweisungen nachfolgen sollte. Der Blick und die Ausrichtung auf Heilige will uns kein schlechtes Gewissen machen, da wir so weit davon entfernt sind, sondern vielmehr uns ermutigen, nicht zu eng von uns zu denken; den Ruf Gottes (Sri Krishnas Flöte) auch in uns wieder zu hören und uns hingetrauen, zu dem, was wir wesenhaft sind, unsere svarupa.

 

Die gesunde Spiritualität von oben setzt die Ideale und Ziele in Beziehung zur eigenen Realität, damit in ihnen auch wirklich eine Verwandlung geschehen kann. Dann führen sie uns zu einer Freiheit und Weite, die uns tatsächlich den Idealen annähern wird – „ Schritt für Schritt in Begleitung meines wachen, beobachtenden Verstandes wird die Wirkung erfahren.“ (BG 6.25 und 9.2)

 

 

Spiritualität von Unten

 

 

Spiritualität von unten meint, dass Krishna nicht nur aus heiligen Texten und durch Sadhus der Vergangenheit und Gegenwart zu uns spricht, sondern gerade auch durch uns selbst, durch unsere Gedanken, Gefühle und Träume, durch die Dinge in dieser Welt. Die Stimme seiner Allgegenwart und Alldurchdrungenheit spricht uns an – wenn wir die grundlegende Bereitschaft haben, sie hören zu wollen. Und speziell,  dass Gottes Präsenz, Gegenwart und Anteilnahme an uns auch in unseren Wunden und unseren vermeintlichen Schwächen, in unserem Erleben und unserer Erfahrung wahrnehmbar ist. Im Dialog mit ihnen erfahren wir, was uns Krishna durch sie hindurch mitteilen möchte.

In einer Spiritualität von unten beginnt man bei sich selber, bei seinen eigenen Schwächen und Leidenschaften, Gefühlen und Bedürfnissen. Sie müssen erst angeschaut werden, damit wir dem wirklichen Gott begegnen können. Sonst würden wir statt Krishna nur den eigenen Hoffnungen und Projektionen begegnen.

In der christlichen Tradition sagt Isaak, der Syrer: „Derjenige, der seine Sünden kennt, ist grösser als der, der durch sein Gebet die Toten erweckt. Derjenige, der eine Stunde lang über sich selbst stöhnt und seufzt, ist grösser als der, welcher das Universum unterrichtet. Derjenige, der seine Schwäche kennt und einsam und zerknirscht Gott folgt, ist grösser als der, der sich der Gunst der Massen in den Kirchen erfreut.“

 

Madhusudan das Babaji lebte jahrelang als Einsiedler in den Himalayas. Einmal betete er zu Krishna, wie er denn echte Demut erlernen könne. Eine göttliche Eingebung sprach zu ihm: „Halte dein Bewusstsein in der Hölle und verzweifle nicht.“. Was soll diese Übung? Hölle ist die absolute Trennung von Gott, die innere Leere. Wenn wir nicht vor ihr davonlaufen, sondern unser Bewusstsein in den Abgrund unserer Seele halten, ohne zu verzweifeln, können wir erahnen, dass uns da wirklich nur göttliche Gnade erheben kann, dass hier Sri Krishnas gütiges Wesen in der Tiefe eine Umkehr bewirken kann, und in der Not, der Verlassenheit ein Schrei der Seele geboren wird, eine Intensität.

Der ganze Mensch mit allem, was in ihm ist, muss in einem Engpass, eben in der Kapitulation, für Gott aufgebrochen werden. Alles, was in uns ist an Gefühlen, an Bedürfnissen, an Leidenschaften und Phantasievorstellungen, muss Sri Krishna hingehalten werden, damit er es verwandeln kann. Verwandlung meint, dass unsere Gedanken und Gefühle für Ihn offen werden, zu erkennen, dass sie in ihrer letzten Konsequenz Ihn meinen und suchen. Das Heilmittel für sie ist nicht ihre absolute Erhebung in die Reinheit, sondern in der Gegenwart Krishnas zu sein. Von Seiner Liebe umhüllt. Alles, was wir denken und fühlen, geschieht in Seiner Gegenwart, der uns wohlwollend anschaut und durchschaut. Vor Krishna und in Krishna erkennen wir, dass wir uns in allen Gedanken und Gefühlen letztlich nach Ihm sehnen als dem, der allein unsere Sehnsucht zu erfüllen vermag.

Die Spiritualität von unten will die Talsohle zum Sprungbrett werden lassen. Dort, wo ich am Ende bin, wo ich vor Krishna kapituliere, wo ich einsehe, dass ich mich nicht aus eigener Kraft aus dem Sumpf herausziehen kann, dort kann eine sehr persönliche Beziehung zu Krishna erwachsen. Ich muss Krishna ja nicht meine Leistungen vorweisen, sondern nur die echte Bereitschaft meines Innersten.

 

Der Ansatz der Spiritualität von unten muss nicht über die Leiderfahrung, über das „Am Boden-Sein“ gehen – er gilt ebenso für die Freudenmomente, für die schönen und auch die neutralen Erfahrungen, die wir gerade durchgehen – auch in ihnen hat uns Krishna eine Botschaft versteckt, die es eben wahrzunehmen und aufzuschlüsseln gilt.

Im Umgang mit Menschen erlebe ich immer wieder, wie Menschen über sich enttäuscht sind, weil sie ihren Sadhana nicht erfüllen können, dass sie trotz allen Bemühens immer wieder versagen. Anstatt ihnen Mut zu machen, dass sie mit mehr Willenskraft die Schwäche überwinden vermögen, noch etwas mehr Disziplin aus ihnen herausfordern, weist sie die Spiritualität von unten hin, dass gerade dies eine ganz entscheidende spirituelle Erfahrung ist. Die Bedingung für die Intervention Gottes ist immer das Eingeständnis der eigenen Ohnmacht, die Bankrotterklärung an den eigenen Willen. Aus dem heraus erwächst ein echtes Anvertrauen. Wir haben für uns keine Garantie. Wir können mit uns nicht machen, was wir wollen. Aber gerade dort, wo wir nichts mehr machen können, wo wir wirklich nicht mehr mögen, wo wir an unseren eigenen Vorstellungen von uns scheitern, wo nach menschlichen Massstäben alles schief läuft, dort möchte Krishna uns berühren, und uns zeigen, dass wir in Ihm aufgehoben sind. In der unheimlichen Bodenlosigkeit unserer Existenz erfahren wir die Lieblichkeit des Aufgehobenseins und dürfen uns wirklich in die Arme Gottes fallen lassen.

Kirkegaard schrieb einmal:

„Ein vollkommener Mensch zu sein, das ist das Höchste. Nun habe ich Hühneraugen bekommen. Das bringt mich dem schon etwas näher.“

 

Man spricht nicht immer über Ras katha, aber über den Kampf mit seinen Anhaftungen. Man nimmt sie an, nicht aber als Rechtfertigung für ein Sich-gehen-lassen in weltliches Leben, aber als Ausgangspunkt zur Erhebung.

 

Es bedarf einer grossen Ehrlichkeit und Echtheit, dass man seinen Schattenseiten auch begegnen lernt. Eine "Himmels-Stürmer-Spiritualität" funktioniert nie. Ikarus brannten die Flügel ab. John Wellwood, ein amerikanischer Meditationsforscher, spricht von „spiritual bypassing“, von einer spirituellen Abkürzung, die am Herz vorbeigeht. Es ist der Versuch, grundlegende menschliche Bedürfnisse, Gefühle und Entwicklungsaufgaben zu verleugnen oder vorschnell transzendieren zu wollen.   

 

Es scheint ein Paradoxon zu  sein: wir steigen zu Gott hinauf, indem wir in unsere Wirklichkeit hinabsteigen, bis in die Tiefen des Unbewussten. Im Hinabsteigen in die eigene Menschlichkeit, in seine Erdhaftigkeit, erhebt man sich zu Gott. Es ist ein Aufstieg durch Abstieg – ein Paradox des Heiligen. C.G. Jung würde sagen, dass der Weg zu Gott ein Abstieg ist in seine eigene Dunkelheit, in das Unbewusste, in das Schattenreich des Hades ist. Und von dort her kann die Seele reich beschenkt wieder auftauchen, so wie Goldmarie im Märchen „Frau Holle“ in den Brunnen fällt, in der Unterwelt das Gold findet und mit neuem Reichtum wieder in die obere Welt zurückkehrt. Aber dieser Mut ist die Grundlage. Im Augenblick des Loslassens und Eingehens des alten „Ichs“ und „seiner Welt“ verspürt man auch ganz fein, aber dennoch gleichzeitig, das Aufsteigen einer ganz anderen Wirklichkeit. Viele haben erfahren, wenn der Tod ganz nah war, in Bombennächten, in schwerster Krankheit, oder anderen Weisen drohender Vernichtung – wie gerade in dem Moment, in dem die Angst ihr ihren Höhepunkt erreichte und die innere Abwehr zusammenbrach, wenn man sich an dem Punkt unterwirft und die Situation annimmt, schlagartig alles ganz ruhig wurde, unversehens ohne Angst war und spürte, dass etwas in ihm lebendig ist, an das kein Tod und keine Vernichtung herankommt.

Ähnliche Seinserfahrungen kann der Mensch machen, wenn er die Sinnlosigkeit, die existentielle Verzweiflung spürt, wenn ihm Unrecht widerfährt.  Hier ist zu erfahren, dass man in dem Augenblick, in dem man nachgibt, sich ergab und das Unannehmbare annahm, plötzlich ein viel tieferes Sein aufbricht. Mit einem Male fühlt sich der Mensch in eine unbegreifbare Ordnung hineingestellt und Klarheit durchleuchtet ihn.

Auch wenn sich ein Mensch seiner Einsamkeit stellt, die Traurigkeit aushält, die ihn überfällt, dann kann er sich plötzlich aufgefangen fühlen und von einer Liebe umfangen und geborgen. Eben die Erkenntnis von Krishnas Gegenwart, die von „unten“ wieder an ihn gelangt.

 

Ein schönes Beispiel für die Spiritualität von unten ist das Märchen von den drei Sprachen. Darin wird der Held, ein Dummling, vom Vater in die weite Welt hinausgeschickt, etwas Rechtes zu lernen. Dreimal nacheinander kommt er wieder nach Hause und gibt auf die Frage des Vaters, was er denn nun gelernt habe, das erste Mal zur Antwort: „Vater, ich habe gelernt, was die Hunde bellen.“ Das zweite Mal: „Was die Vögel sprechen“, und das dritte Mal: „Was die Frösche quaken“, worauf ihn der Vater, der als Verkörperung der rein rationalen Einstellung mit solcher Kunst nichts anzufangen weiss, in höchstem Zorn verstösst.

Er geht auf Wanderschaft und kommt in eine Burg, in der er übernachten möchte. Der Burgherr kann ihm aber nur den Turm zur Verfügung stellen, in dem wilde bellende Hunde hausen, die schon manchen verschlungen haben. Er hat aber keine Angst, nimmt etwas zum Essen mit und wagt sich in den Turm hinein. Er spricht wohlwollend mit den bellenden Hunden. Und sie verraten ihm, dass sie nur deshalb so wild sind, weil sie einen Schatz hüten. Und sie zeigen ihm den Weg zum Schatz und helfen ihm dabei, ihn auszugraben. Der Weg zu meinem Schatz geht also über den Dialog mit den bellenden Hunden, mit meinen Leidenschaften, mit meinen Problemen, mit meinen Ängsten, mit meinen Wunden, mit all dem, was in mit bellt und meine Energie verschlingt. Eine Spiritualität von oben würde die Hunde in den Turm einsperren und daneben ein Gebäude von Idealen errichten. Doch dabei müsste man ständig Angst haben, dass die Hunde nicht doch noch ausbrechen und einen verschlingen könnten. Dann ist die Angst vor den lauernden Begierden und ständigen Versuchungen in einem am Brodeln. Vor allem aber sperrt man sich vom Leben ab. Alles, was wir unterdrücken oder verdrängen, fehlt uns an unserer Lebendigkeit. Die bellenden Hunde sind voller Kraft. Wenn wir sie einsperren, fehlt uns ihre Kraft, die wir für unseren Weg zu Krishna und zu uns selber brauchen.

 

 

 Die Spiritualität von unten sieht den Weg zu Gott nicht als Einbahnstrasse, auf der man einfach immer weiter auf Gott zugeht. Der Weg in Seine Arme darf auch über vermeintliche Umwege und Irrwege führen, über das Scheitern und die Enttäuschung von sich selbst. Nicht die Tugend ist es, die mich für Gott öffnet, nicht mein Heldentum, sondern meine Schwäche, meine Ohnmacht, meine ehrliche Kapitulation. In der Spiritualität von unten geht es darum, dass wir gerade dort, wo wir am Ende unserer Möglichkeiten angelangt sind, offen werden für die persönliche Beziehung zu Krishna. So wie Kuntidevi sagt, dass das wahre Gebet aus der Tiefe der inneren Not aufsteigt und nicht der vermeintlichen Sicherheit, alles zu können und im Glauben verankert zu sein. (SB 1.8.26)

 

Denn in allen Anstrengungen, in allem Sadhana, den wir tun, um von Gott Besitz zu ergreifen, gehen wir in die falsche Richtung. Wir gleichen damit dem Prometheus, der sich des Himmelsfeuers bemächtigen will.

Es geht in den Heiligen Schriften nicht darum, uns eine Sprossenleiter anzubieten, mit der wir zur Vollkommenheit aufsteigen, sondern die Betrachtung all des Heiligen wird konfrontiert mit dem eigenen Leben, mit der eigenen Wirklichkeit – was einen Weg eröffnet, der in die Tiefe der Demut führt. Demut soll auch nicht als Tugend verstanden werden, die man sich selber anwirbt, indem man sich „verdemütigt“ und klein macht, es ist nicht eine soziale Tugend, sondern eine religiöse Grundhaltung.

Demut wird vom Althochdeutschen diomuoti abgeleitet und beschreibt eine „dienende Gesinnung“. Das lateinische Wort humilitas hat mit humus, mit Erde, zu tun. Humilitas ist also das Aussöhnen mit unserer Erdhaftigkeit, mit unserer Erdenschwere, mit unserer Triebhaftigkeit, mit unserem Schatten. Man lässt sich fallen und merkt, man ist aufgehoben, denn man kann nie tiefer fallen als in Krishnas sanfte Hände.

Die Griechen unterscheiden da genau zwischen tapeinosis (Erniedrigung, Elend) und tapeinophrosyne, was die Haltung der Demut, der geistlichen Armut, beschreibt. Es ist der Ort der Tiefe, an dem man wirklich Gott begegnen kann, an dem erst das wirkliche Gebet erklingt. Diese Demut ist die Voraussetzung für die echte Gotteserfahrung. Das ist die Trinad-api-sunicena-Stimmung, von der Sri Caitanya im Siksastakam spricht.

Jung spricht von der Inflation des Stolzen, der sich aufbläht mit hohen Idealen, der sich mit archetypischen Bildern identifiziert (z.B. dem Bild des Propheten, des Märtyrers, des Heiligen...). Und diese Identifizierung mit dem archetypischen Bild entfremdet uns von uns selber. Demut ist für Jung den Mut, den eigenen Schatten anzuschauen – eben die Spiritualität von unten. Ohne Demut würde der Mensch seine unangenehmen Seiten verdrängen und nur das Eingeständnis der eigenen Schwächen kann uns vor den Verdrängungsmechanismen schützen, mit denen wir den Schatten ausschliessen. Solange ich meine Schwächen verbergen muss, führe ich ein Ersatzleben an der Oberfläche, kann also nie mit dem Wesenskern beten. Es ist eine atrophierte Spiritualität. Ich muss die Dunkelseite integrieren, um wieder mit Leidenschaft, als ganzes Wesen, bei Ihm sein zu vermögen. Wenn das Numinose an einem herankommt, bevor man sich aufmerksam und voller Bewusstsein auf des Phänomenale, die Dinge der Welt,  eingelassen hat, entsteht eine artifizielle und übersteigerte Spiritualität, welche zusammenbrechen muss, manchmal sogar in die Sünde oder gar in die Gleichgültigkeit gehen muss.

Deswegen beschäftigt sich die Spiritualität von unten mit der Frage, was wir tun sollen, wenn alles schief geht, wie wir mit den Scherben unseres Lebens umgehen, und wie wir gerade daraus Neues formen können.

 

Als Begründung dieser Spiritualität von unten liessen sich unzählige Stellen der Schriften anführen, was aber in diesem Artikel aus Platzgründen nicht möglich ist.  Saranagati, der Pfad der Hingabe, beginnt mit Dhainya, dem Bekenntnis der eigenen Unfähigkeit, der Kapitulation des „Ich“.

 

Dies sind nur ein paar Gedanken. Vielleicht kannst du ja die Idee, den sich hinter den Worten versteckt, erfassen.