Klesha - Grund-Leiden

Das Sanskritwort wird übersetzt mit Betrübnis, Schmerz, Kummer, Leid, Plage, Elend, Trübsal.

Sri Krishna sagt in der Bhagavad Gita dukha dosanudarsanam (13.11), dass das Leid genau betrachtet werden soll, denn erst dann wird dessen Auflösung möglich.

Viele sehen in den sehr grundlegenden Leidensdefinitionen des Ostens („das ganze Leben ist Leid“ des Buddha oder „Geburt, Alter, Krankheit und Tod sind Leid“ der Bhagavad Gita) eine pessimistische Lebenshaltung. Wenn man aber die Kleshas genau analysiert und darüber nachdenkt, wird man darin eine sehr umfassende Beschreibung der Leidensursachen finden, denen jedes Lebewesen ausgesetzt ist, ganz unabhängig von den äusseren Situationen, in denen es sich gegenwärtig befindet.

Diese grossen Probleme des Menschseins sind zu drängend, zu ernst, zu tief und erfurchtsgebietend, um sie nur auf der intellektuellen Ebene zu analysieren. Indisches Denken hat schon immer auf Transformation und nicht auf Information abgezielt. Im Erkennen der Kleshas wird ein Anstoss zu ihrer Überwindung und eine Dringlichkeit für das innere Leben geboren, damit man es nicht mit einem Hobby vergleicht oder es durch tausendundeine Nebensächlichkeit immer auf einen anderen Zeitpunkt verschiebt.

 

Patanjali erklärt in den Yogasutras (PYS 2.2), dass das Üben von Yoga sich in zwei Wirkungen zeigt, nämlich dem Herbeiführen von kognitiver Absorption (Samadhi) und dem Nachlassen der Kleshas. Im Nachlassen des Leidensdruckes erst wird der Grundstein für echte Spiritualität gelegt, denn erst im Frieden ermöglicht sich eine echte Wahl.

 

Im Madhurya-kadambini heisst es auch, dass das erste Anzeichen von gelebter spiritueller Praxis (sadhana) die Auflösung der Kleshas ist (Kleshagni). In diesem Sinne ist die Analyse der Kleshas ein Pulsnehmer, in wie weit man selber Sadhana praktiziert.

 

Was sind nun die Kleshas?

Wenn das Lebewesen seine eigene wesensgemässe Position vergisst und sich beginnt mit Dingen zu identifizieren, die nicht es selber sind, erscheinen Ängste.

Die ewige Seele beginnt sich mit Zeitweiligem gleichzusetzen, welche sie, ihrem Naturel gemäss, ewig erhalten will, was zu einem endlosen und sinnlosen Bemühen führt.

"Wenn sich das Lebewesen fälschlicherweise mit den materiellen Körpern, in denen es sich jeweils befindet, identifiziert, vertieft es sich völlig in die äussere Energie des Herrn, und verliert dadurch den Überblick für das Ganze, und wird in ihrer Perspektive beschnitten.

Durch diese Selbstvergessenheit erkennt die Seele ihre eigentliche und wesensgemässe Beziehung zu Gott nicht mehr, vergisst ihren Bezug zu ihm und sucht den Bezug in der peripheren Welt und die Folge davon ist, dass endlose Ängste auftauchen." (Srimad Bhagavatam 11.2.37)

Wenn einer sich von Gott abgewendet hat, dann entsteht Anhaften an das Zweite (dvitiya = das Sekundäre, an die äussere Welt) und aus diesem Anhaften entsteht Furcht, denn der Gottabgewandte vergisst, wer er ist und Identifikation mit dem, was er nicht ist, beginnt. Er glaubt nun, Leib, Geist, Weltanschauungen und Emotionen seien sein Selbst.

Diese existentiellen Grundleiden, die die klare Wahrnehmung verzerren (Patanjali Yoga Sutra, von nun ab abgekürzt als PYS, 1.8) werden als Kleshas bezeichnet. Aus dem Feld von Avidya (Unwissenheit) erwachsen die Samen der weiteren Kleshas, welche dann in die Früchte von Karma, zukünftigen Geburten, resultieren.

 

 

Patanjali beschreibt in den Yoga Sutras fünf Kleshas (PYS 2.3-9):

Avidya, Unwissenheit ist die Wurzel allen Leidens. Es braucht die grundlegende Dunkelheit, damit die Seele ihren Ursprung vergessen vermag und sich dadurch als Bestandteil einer materiellen Welt erfühlen kann. Unwissenheit bedeutet immer, Nichtwissen-wollen, die innere Gleichgültigkeit der Seele zur Wirklichkeit.

„Unwissenheit bedeutet, das Zeitweilige als das Ewige zu missidentifizieren, das Nicht-Atman für das Atman (das, was nicht das Selbst ist für das Selbst zu halten – zum Beispiel manchmal das Gefühl zu haben, eine Frau/ein Mann zu sein. Die Seele hat kein Geschlecht innerhalb der Dualität), das Unreine für das Reine und das Elend für Glück zu halten (die Ursache von Leid für die Ursache von Glück zu halten)." (PYS 2.5)

 

Avidya wird der Seele vom neutralen Aspekt Gottes, der Überseele, geschenkt aufgrund ihrer Gleichgültigkeit der Transzendenz gegenüber. Das bedingte Selbst kann das „Vergessen-Wollen“ nicht verstehen. Es ist auch nicht ein einmaliges Geschehen, sondern eine sich repetierende, in jedem Moment bestätigende Entscheidung.

 

Erst durch avidya kann das ewige Lebewesen sich einer vergänglichen Welt zugehörig fühlen. So kann es den Körper als das Selbst betrachten und vermag es, das ewige Selbstinteresse zu vernachlässigen und Nebensächliches für wichtig zu halten und das eigene Selbst als zugehörig zum Körper, Familie, zu Gütern und Besitz oder zu eigenen Gedanken und Gefühlen zu bezeichnen.

 

Als Resultat der Täuschung, in die das Bewusstsein verstrickt wird, beginnt sich das Lebewesen mit Materie gleichzusetzen und zu identifizieren und seine Identität darin zu sehen. Diese Identifizierung wird immer stärker, je tiefer das Bewusstsein in die Materie einsinkt. Fortschreitende Involution in die Materie beraubt einem in zunehmendem Masse die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis.

Die Absenz der andauernden Erkenntnis, eine ewige Seele zu sein, welche eigentlich dieser Welt nicht zugehörig ist, und in einem Liebesaustausch mit Gott steht, ist Avidya.

 

 

Asmita („Ichsein“, Identitätsgefühl ausserhalb der Seele zu haben)

Im Yoga-sutra (2.6) heisst es: „Asmita ist die Vereinheitlichung, die Verschmelzung der Kraft des Bewusstseins, des Sehenden, mit dem Instrument des Sehens.“

Drg-Sakti, die Kraft, welche wahrnimmt, wird mit dem wahrnehmenden Werkzeug (darsana-sakti) gleichgesetzt. Das Wahrgenommene hält sich selbst für den Seher.

Dies ist ein Gefühl der Einheit zwischen dem Seher und der Kraft des Sehens, zwischen dem Riecher und der Kraft des Riechens, zwischen dem Beweger und der Kraft des Bewegens....

Das Konzept der Gleichheit zwischen der Sinnestätigkeit und dem Ich.

Wenn die bedingte Seele „Ich“ denkt, meint sie, das sei die Kulmination all ihrer Erfahrungen. (Ich ging in diese Schule, habe diese Ausbildung gemacht, diese Person geheiratet und dies gearbeitet... Identität wird dann zu einer Collage der Sinnenwahrnehmung.

Aber die Sinneserfahrung und der Erleber derer sind zweierlei. Die Verwechslung, wenn der Erleber sich für das Erlebte hält, heisst im Sanskrit „asmita“.

 

Das Wort Asmita leitet sich ab von asmi („ich bin“). Wenn das reine Wahrnehmungsvermögen der Seele in der Materie verstrickt ist und durch die Kraft der maya (der verblendenden Energie Gottes) der Erkenntnis seiner wirklichen Natur verlustig geht, wandelt sich das reine „ich bin ein Diener von Krishna, ewig ihm zugehörig“ in „ich bin der Wirkende getrennt von der Absicht Gottes.“ Das ursprüngliche Bewusstsein, ein Diener des höchsten Herrn zu sein wandelt sich um in den Anspruch, Geniesser und Kontrollierender der äusseren Welt zu sein. Die feinsten Lichtkörper der Devas bis hin zu einer grobstofflichen Hülle sind alle von „asmita“ beeinflusst. Die beiden Vorgänge – der Verlust der Gewahrung seiner wirklichen Natur und die Identifizierung mit den Körpern – finden gleichzeitig statt, sowie die Absenz von Licht sofort Dunkelheit generiert.

 

Ein weiterer Aspekt des Identifizierungsvorgangs ist das Einbeziehen anderer Begleiterscheinungen meiner Anhaftung in das Mein. Der identifizierte Körper, ob grob oder fein, wird zu einem Mittelpunkt, um den sich eine Anzahl Objekte versammeln, die in geringerem oder stärkerem Masse Teile des „Ich“ werden. Es ist eine Übertragung, eine Erweiterung des Ichs. Eine Aufblähung des „Ich“ in wesensfremde Elemente hinein. Diese Objekte können lebendig oder leblos sein, wie ein anderer Körper, der aus meinem Körper geboren wurde, der dann zu meinem Kind wird. Das Haus, das diese Körper beherbergt, wird zu „meinem“ Haus. So bildet sich um die von Asmita mit dem Körper geschaffene Umbra (Totalschatten) eine Penumbra (Teilschatten), die all jene Gegenstände und Personen umfasst, die zu dem durch den Körper wirkenden „Ich“ gehören und die Einstellung der Imagination des „mein“ herbeiführen.

Jeder nachdenkliche Mensch vermag sich in Gedanken von seinem physischen Körper zu trennen und zu erkennen, dass er nicht das Bündel aus Fleisch, Knochen und Mark ist, mit dessen Hilfe er in Interaktion mit der physischen Welt treten kann. Doch nur wenige sind imstande, sich auch von ihrem Intellekt zu trennen und zu erkennen, dass ihre Meinungen und Ideen lediglich von ihrem Verstand geschaffene Denkmuster sind. Der Grund, warum wir unsere Meinungen so interessant und wichtig finden, liegt in der Tatsache, dass wir uns mit unserem Intellekt identifizieren. Unsere Gedanken, Gefühle, Meinungen, Vorurteile und Vorlieben sind Teil unseres mentalen Besitzes, Kinder unseres Verstandes, und deshalb schenken wir ihnen so übermässige und liebevolle Beachtung. Jede Verhaftung wirkt immer einschränkend auf die Wahrnehmung des Ganzen.

 

 

Raga (Anziehung, Anhaftung, Zuneigung zu Dingen in der Welt) ist die natürliche Reaktion, dass man in der Vergangenheit materiell geniessen konnte. Dieser Genuss wurde im feinstofflichen Körper als ein Samskara (Eindruck) festgehalten, und drängt nun zur Widerholung. Man will diese angenehme Erfahrung wiederholen, verlängern und der Drang dazu nennt man Raga. In vergangenen Leben war man damit nicht zufrieden. Ungesättigtheit ist das natürliche Resultat von Freuden in dieser Welt, in der die Wünsche unbegrenzt sind, da sie eigentlich für die Ausrichtung auf das Unbegrenzte konzipiert sind, aber die Möglichkeiten nur ganz beschränkt sind. Zudem tritt schnell die Sättigung ein, obwohl man noch nicht befriedigt ist. Wenn das Bewusstsein von Raga bestimmt ist, wird Befriedigung mit Zufriedenheit verwechselt, Glück wird verstanden als das Geniessen der Konsummöglichkeiten (als Sinnesbefriedigung), Freiheit als Hemmungslosigkeit und Wille wird verwechselt mit grenzenlosem „Haben-müssen“ (Gier). Dies stellt eine unmögliche Situation für eine glückliche Existenz dar.

 

In der Anhaftung an eine bestimmte Person widerspiegelt sich die Tatsache, dass man in der Vergangenheit eine gute Erfahrung machte mit Eigenschaften, die in dieser Person verkörpert sind. Es ist nicht die Person selber, der man nun in diesem Leben wieder begegnet, sondern die Person erinnert einen in ihrem Verhalten und durch ihren Charakter an Menschen, mit denen man in der Vergangenheit angenehme Erlebnisse hatte.

Deshalb heisst es in den Yoga-sutras (PYS 2.7)

„Das, was die Erfahrung von Glück begleitet, ist Anhaftung.“

Anhaften ist das Festklammern an Freude mit dem Wunsch ihrer Wiederholung.

Die Raga kommt aus kalpana und vikalpa (Imagination und Fantasie, Einbildungskraft), eben der Erinnerung an die Freudenerfahrung, die man damit hatte. Der menschliche Geist hat eine starke Tendenz, damit der Aufenthalt in dieser Welt erst möglich wird: die Vergangenheit wird euphemistisch betrachtet, sie wird im Geist aufgewertet und besser dargestellt, als man sie effektiv erlebt hat. Somit ist es nicht einmal das real erfahrene Glück der Vergangenheit, sondern die beschönigte Erinnerung daran, die nun durch äussere Bedingungen und Faktoren assoziiert wird und Anhaftung (Raga) generiert. Wir bilden uns ein, dass diese Freude von den Umständen herrührt, und wenn sie nicht mehr vorhanden sind, erscheint die Anhaftung, eben die Verwirrung der inneren Klarheit, die denken lässt, dass die Freude erst wieder zurückkehrt, wenn die äusseren Umstände wieder ähnlich arrangiert sind. Der Kampf mit der Welt beginnt, der nun diese Faktoren wieder herbeiführen will. Dieser Kampf zerstört das innere Gleichgewicht und das ist Leid. Deshalb erzeugt jede Anhaftung Leid schon lange bevor das Objekt der Befriedigung einem in der fluktuierenden Welt wieder entzogen wird.

Und selbst wenn die äusseren Umstände wieder gleich da sind, ist es sehr fraglich, ob unser karma uns da die Glückserfahrung noch einmal wiederholen lässt. Und selbst wenn die Erfahrung des Glücks reproduzierbar war, wird dadurch Raga verstärkt, das heisst das Potential des Leides wird vergrössert, und es ist noch konstant durchzogen von der Angst, es wieder zu verlieren.

Anhaftung ist das, was auf die in der Vergangenheit empfundene Freude folgt, und ist ein Klesha!

 

Dvesa (Zurückschrecken, Abneigung, Aversion)

Die Hoffnung wurde nicht zufrieden gestellt und man ist in der Vergangenheit zurückgeblieben mit dem Gefühl einer Leere und einer Enttäuschung. Nun drückt sich dieses Gefühl aus als Abneigung.

Dvesa ist die natürliche Abneigung, die gegenüber einer Person oder Sache empfunden wird, die eine Quelle des Schmerzes oder Unglücks für uns ist, und in der Vergangenheit gewesen ist. Diese Reaktion darauf, das Dvesa, die in der Erinnerung gespeicherte Abneigung, ist geblieben, und kreiert die Störung im Geiste, was das Leid ausmacht.

Man glaubt nun schnell, dass der Kummer des Nichterhaltens einer erwarteten Befriedigung Leiden sei, aber es ist schon früher existent in dem durch die Aversion aufgewühlten Geist.

 

Da diese beiden Klesas (Raga und Dvesa) zu den hervorstechenden gehören, die zahllose Früchte menschlichen Elends und Leiden hervorbringen, lohnt es sich, diese noch ein wenig zu beleuchten. Zu-und Abneigungen, die uns an zahllose Personen und Dinge binden (auch die Abneigung ist eine Form des Festklammerns am Äusseren, und generiert Leiden, genau so wie das Anhaften), bestimmen unser Leben in unglaublichem Masse. Unbewusst oder bewusst denken, fühlen oder handeln wir nach Hunderten solcher Neigungen, die von diesen unsichtbaren Fesseln geschaffen wurden, und es bleibt dem Menschen kaum die geringste Freiheit, unvoreingenommen zu handeln, zu fühlen oder zu denken. Die Abhängigkeit des von übermächtiger Zu-oder Abneigungen beherrschten Verstandes ist bekannt. Doch nur wenige machen sich einen Begriff von der Verzerrung unseres Lebens durch weniger ins Auge fallende Zu-und Abneigungen, und das Ausmass, wie sie unser Leben bestimmen, das heisst unsere Freiheit überdecken und das Leben in gehabten Spuren weiter verlaufen lassen. Man bleibt durch diese beiden ein Gefangener seiner eigenen Vergangenheit.

 

Abhinivesa ist die Absorption in das Zeitweilige, das Anhaften ans Leben, welches sich dann auch als Todesfurcht manifestiert.

Jedes ewige Wesen strebt natürlicherweise nach Beständigem. Aber im Zustand des Vergessens überträgt man diesen Kontinuitäts-Wunsch auf das Zeitweilige und möchte hier Zeitlosigkeit erfahren. Der Überlebenstrieb ist nun geboren.

Jedes Geschöpf hat den Willen zu leben, will an dem Leben hier Festhalten. Und das ist ein Klesha, eine Ursache für Leid.

Was treibt jedes Lebewesen an, konstant sich gegen das Sterben zu wehren? Einerseits sicher eine schlummernde Urerinnerung an die Unvergänglichkeit der Seele, aber auch eine Erinnerung an die leidvolle Erfahrung in der Vergangenheit, zu sterben. Wären wir in der Vergangenheit noch nie gestorben, wäre dieser Impuls, sich gegen das Sterben zu wehren, nicht existent.

 

Das Hängen am Leben kann nicht beseitigt werden einfach durch philosophisches Nachdenken, sondern erst muss die Avidya, den Deckmantel, der unsere Beziehung zu Gott latent werden lässt, gelichtet werden. Und dies geschieht durch die Selbsthingabe zu Gott, das Übergeben, sich selber ihm anzuvertrauen.

Diese Sehnsucht nach Gottesdienst, als reine Seele einen Austausch mit Krishna zu erfahren, kann so stark werden, dass das Abinivesha gänzlich gelöst wird.

In der  Isopanisad (17) findet sich das folgende Gebet, das nicht dem Lebensüberdruss, sondern eben dem brennenden Wunsch nach Wirklichkeit entspringt.

„O mein Herr, möge dieser vergängliche Körper zu Asche verbrennen, und mögen die Elemente dieses Körpers mit der Totalität der Elemente verschmelzen.

Ich bitte dich, mein Herr, erinnere dich an all das, was ich für dich getan habe.“

 

Die Kleshas stehen miteinander in Verbindung, sie bilden also praktisch einen Ablauf, der mit Avidya beginnt und mit Abhinivesha endet.

In den Yogasutras heisst es (2.10) dass die Methode der Zerstörung der Kleshas darin besteht, den Vorgang umzukehren, durch den sie erzeugt wurden. Demzufolge ist Abhinivesha nur die letzte Phase in der Entwicklung der Kleshas. Solange die primäre Ursache nicht behoben wird, müssen sich die daraus folgenden Wirkungen in endloser Folge weiterproduzieren.

 

Die Kleshas existieren in zwei Zuständen, im aktiven und im potentiellen. In ihrem aktiven Zustand sie sie an ihren Ausdrucksformen leicht zu erkennen. Bricht jemand in Ärger aus, bemerkt man leicht, dass Dvesha aktiviert worden ist. Wenn sich dieser Mensch Selbstdisziplin auferlegt, erlangt er die Fähigkeit, auf einen Impuls nicht sofort reagieren zu müssen. Darin liegt eine Freiheit, anders zu reagieren. Er kann ganz ruhig bleiben und so dieses Klesha in seinen potentiellen Zustand zurückführen, wo er dann durch Reize der Aussenwelt aber auch wieder geweckt werden kann.

Wenn die Kleshas im aktiven Zustand sind, entfällt die Fähigkeit zur bewussten Richtungsänderung. Allein durch Disziplin und bewusste Lebensführung lässt sich das Problem der potentiellen Kleshas aber nicht ausrotten, sondern man hat da nur eine günstige Bedingung geschaffen, die Samen ganz auszuräuchern.

 

Patanjali spricht dazu von pratiprasava (PYS 2.10), was Involution bedeutet, etwas auf den Ursprung zurückzuführen, „Zu-Ende-denken“.

Es geht also darum, die fortlaufende Entwicklung der Kleshas umzukehren, wobei jede Wirkung von ihrer unmittelbaren Ursache resorbiert wird und so langsam in eine Auflösung tritt. Dass bedeutet, dass Abhinivesha auf Raga-Dvesha zurückgeführt werden muss, diese auf Asmita, Asmita auf Avidya und Avidya auf die Sehnsucht nach Gott. Dieses Zurückverfolgen ist kein blosses intellektuelles Erkennen, sondern eine erlebte Verwirklichung.

Es geht um Fragestellungen, die einen auf eine tieferliegende Ursache hinweisen. Wer ist derjenige, der leben möchte, der angehaftet ist? Wer fühlt die Aversion? (von abhinivesha zu Raga und Dvesha),  Wer ist es, der „Ich“ sagt? (von Raga/Dvesha zu Asmita), Was will der wirklich? Was sucht denn derjenige, der der letztliche Erleber von dem ist? Und zu wem steht er in Beziehung? (das wäre dann der involutive Schritt von Asmita zu Avidya) Man sucht denjenigen, der sucht.

 

Die Yoga-sutras (2.17) beschreiben die Ursache der Kleshas und wenn man diese versteht, hat man eine Grundlage zu ihrer Überwindung:

Gedanken und Gefühle sind beobachtbar. Das Beobachtete kann nicht gleichzeitig der Beobachtende sein, der Seher nicht das Gesehene. Das gleiche Ding kann nicht zur gleichen Zeit Subjekt und Objekt sein. Die Organe, die Freude, Schmerz und dergleichen als Affektionen besitzen, können nicht zugleich empfindendes Subjekt sein.

Das wahrnehmende und bewusste Prinzip, die Seele, ist jenseits aller Empfindungen des individuellen Geistes. (Bhagavad Gita 3.42)

Mit zunehmender Vergrobstofflichung der Instanzen des Geistes und auch durch seine konstanten Bewegungen und Färbungen, wird das reine Bewusstsein der ewigen Seele mehr und mehr verschleiert und verdunkelt.

Dies ist die Verunreinigung der Instrumente der Wahrnehmung und Yoga ist der Weg ihrer Klärung.

Wahrnehmung bedeutet, dass sich der Geist entsprechend der wahrgenommenen Objekte verfärbt und verformt. Wahrnehmung ist also aktive Bewegung des Geistes, also Handeln, welches auch Spuren (samskaras) hinterlässt. Der menschliche Geist ist kein reiner Spiegel, in dem sich das Lebewesen reflektiert, sondern eine Verschleierung der Seele und somit ein Zerrspiegel ihrer eigentlichen Interessen. Es werden nun wesensfremde Wünsche produziert.

Aufgrund der beständigen Bewegungen, Färbungen und Identifikationen kann der Geist nicht unverfälschte Informationen und Kenntnis über die Welt vermitteln, auch nicht durch die Sinnesorgane.

Das Lebewesen, der Seher, kann nur entsprechend der Wellen und Verschmutzungen der Oberfläche des Sees wahrnehmen. Die dem Lebewesen gespiegelte Erkenntnis der äusseren Welt ist daher eine Reflektion des Zustandes des eigenen Geistes. Die Wahrnehmung ist eine verzerrte Konstruktion entsprechend des Zustandes des Geistes.

Von einem Erkennen der Wirklichkeit, von wahrer Erkenntnis, ist bei einem normalen, das heisst bewegten und verfärbten Zustand des Geistes nicht die Rede, sondern das scheinbare Erkennen der Wirklichkeit basiert auf einer Reflektion des inneren Zustandes.

 

„Obgleich der Wahrnehmende, das Lebewesen, ursprünglich rein ist, wird seine Schau durch die Färbung des Verstandes  bestimmt. (PYS 2.20)

 

Das Lebewesen wirft seine Aufmerksamkeit auf die Manifestation der Prakriti. Von dort wird es mit einem Spiegel reflektiert und von dem Lebewesen wahrgenommen. Diese erkennt nun jedoch nicht mehr seine reine, unberührte Natur, sondern die durch ahamkara (falsches Ego; dem Vermögen der Hüllen, sich als Einheit zu erkennen) verzerrte Reflektion.

„Die Ursache des Schmerzes, der vermieden und ausgelöscht werden kann, ist die Vereinigung des Sehers mit den Objekten seines Sehens, dem Gesehenen.“ (PYS 2.17)

 

Die Ursache der Verschmelzung ist Unwissenheit (avidya) (PYS 2. 24)

 

Wenn es uns so erscheint, als würde die Kraft des Bewusstseins mit den Instrumenten des Bewusstseins verschmelzen, so nennt man das „Ich-haftigkeit“ Asmita, Vergessen der eigenen Identität. (PYS 2.6)

Auf diese Weise beginnen die an sich unbewussten Hüllen vom verunreinigten Bewusstsein des Lebewesens durchstrahlt zu werden. Durch die Fähigkeit zur Identifikation (Einfärbung) hält das bedingte Selbst sich für etwas anderes, etwas ausserhalb sich selber, indem es die ihn durchlebende Kraft der Seele nicht mehr wahrnimmt.

 

„Zu anderen Zeiten (ausserhalb des Zustandes des Yoga) besteht Identifikation mit den Bewegungen des Geistes“ (PYS 1.4)

 

Durch die Stärkung und Reinigung des Geistes durch Meditation und auch dem Studium heiliger Texte vermag sich die Seele immer feiner darin zu reflektieren (wie in einem verschmutzen Spiegel, der allmählich gereinigt wird). So kann sie ihre reine, unberührte und transzendente Natur wieder wahrnehmen, die nie verloren, sondern nur verschleiert war.

Und wenn alle Modifikationen der Oberfläche wieder zum Stillstand kommen, „dann ruht der Sehende, der Wahrnehmende, die Seele, in ihrer eigenen, wahren Natur.“ (PYS 1.3)

 

Das Leiden ist also die Fehlidentifizierung mit den Bewegungen des Geistes, während das wirkliche Selbst davon ganz unberührt bleibt.