Kern des Leidens

Das, woran wir hängen, hängt an uns, das ist unsere Last. Dieses Gewicht, das Unfreiheit erzeugt hat verschiedene Namen: Besitz, Körper, Leben auf Erden… doch ist es eigentlich nur der Ichgedanke.

Dieser Ichgedanke hat sich verselbständigt und erscheint nun ausserhalb von der Seele, ausserhalb von Krishnas Willen.

Es hält sich für jemand anders, für einen Jemand, der sein Leben leben muss, einen Jemand, der den Bedrohungen und Gefahren des Lebens fast nicht gewachsen ist und der immer in einem Kampf zu stehen hat. 

 

Sri Krishna sagt in der Bhagavad Gita: mamaivamso jiva loke

„Dieser „Jemand“ ist ein geliebter Teil meiner Selbst. (Bhagavad Gita 15.7)

 

Es gibt nur eine einzige Beziehung, die wesentlich wäre, ausgelöscht zu werden – und das ist die Beziehung zum Gedanken „Ich“. Er ist die Ursache des Leidens auf Erden. In völliger Klarheit an die Wurzel zu gelangen ist wesentlich. Spiritualität, die dieser Begegnung ausweicht, ist mehr Selbstentfremdung als Selbstverwirklichung.

 

Man fühlt sich gefangen in einem Netz von Gedanken und diese Gedanken beginnen alle mit „ich“. Es braucht Bewusstwerdung, dass man an diesem einen Gedanken „Ich“ ein Leidensgebäude aufbaut – und dann ist man an der Wurzel des Leidens angelangt. 

 

Wenn man die Beziehung zwischen einem selbst und dem Gedanken „ich“, die man eingegangen ist, löst, dann ist die alte Identität vorbei. Dann ist alles vorbei, was man bisher als „ich“ angenommen hat.

 

Jeder in dieser Welt betrachtet Dinge in dieser Welt als geliebt. Die Anhaftung daran lässt einen leiden. Im Aufgeben vom Besitzgefühl und der Verhaftung erfährt man unbegrenzte Glückseligkeit. (Srimad Bhagavatam 11.9.2)

 

Alle Wesen fühlen sich gejagt und gehetzt von Ich-Gedanken. Doch nur wenige stellen sich der Frage: „Was ist die Wurzel von Gedanken? Wer denkt? Wer ist der Denker? Das ist die Frage: wer ist ich jenseits der Gedanken?

Doch dies ist keine philosophisch theoretische Frage. Aber man kann daraus natürlich eine solche machen und mit weiteren Ich-Gedanken darüber nachdenken (das ist die materielle Reflektion über das Heilige – Götzenverehrung) und somit den ursprünglichen Erleber der Gedanken weiterhin verleugnen.

 

Man leidet nicht an der Realität wie sie ist, sondern an dem, was man künstlich zu „ich“ gemacht hat.

Würde man irgendeinen Baum zu „Ich“ machen, würde man an diesem Baum leiden. Genauso haben wir willkürlich Dinge ausserhalb uns selbst zu „ich“ gemacht und leiden daran.

 

Es ist vollkommen normal und selbstverständlich für die meisten Menschen, dass der Gedanke und das Gefühl „ich“ ist. Man kommt nicht auf die Idee, dass es anders sein könnte. Man hat nie etwas anderes gelehrt bekommen und hat es auch nie in Frage gestellt.

So hält man die Angst für „Ich“, die Trauer für „Ich“, die Liebe für „Ich“, die Verzweiflung für „Ich“, der Gedanke für „Ich“. Das ist die Essenz allen Leidens.

Wenn man das wirklich erkennt, ist man am Quell des menschlichen Leidens. Dann braucht man keine Theapien mehr. 

In der Selbsterforschung muss man diesen Kern berühren.

Menschen leiden, weil sie nicht im Wesentlichen sind. Selbst viele spirituelle Sucher wollen den Punkt, wo das Leiden entsteht, nicht berühren und leiden weiter. Und so missverstehen sie den spirituellen Pfad als Beziehungen zu klären oder Energien zu befreien und das ist sicherlich alles gut und richtig, aber der Kern des Leidens ist ahankara, Ich-Gedanken.

 

„Erfülle deine Pflicht mit Gleichmut und gib alle Anhaftung an erfolg und Misserfolg auf. Solche Ausgeglichenheit wird Yoga genannt.“

(Bhagavad gita 2.48)

 

Wenn man reif ist für diese Introspektive, unberührt was aussen und innen geschieht, unberührt, ob angenehme oder unangenehme Erfahrungen gemacht werden, ob perfekte oder unperfekte Ereignisse stattfinden – wenn man nur den Moment, in dem der Ich-Gedanke auftaucht sich nicht mit ihm identifiziert und ihn sich aneignet, dann fällt dieser initiale Gedanken in sich zusammen und dann hat die Geschichte keine Substanz mehr. 

Was auch immer die eigene Leidensgeschichte ist, sie ist nicht in der Vergangenheit entstanden, sondern sie entsteht im Moment des Einnehmens, der Identifikation mit den Gedanken.

 

Dieser erste Gedanke gibt einem zweiten Kraft, einem dritten, einem vierten und es entsteht ein Schneeballsystem wie ein Krebsgeschwür. Aus diesem einen Gedanken entstehen Hunderte, Tausende, Millionen von Gedanken, einer nach den anderen, immer schneller und irgendwann ist ein Netzwerk, ein riesiges Labyrinth, eine Welt enstanden, aber es beruht alles nur auf diesem einen einzigen Gedanken.

 

Alles, was man für „ich“ hält, ist ein unlebendiges Konstrukt bestehend aus Einbildungen, Vorstellungen, die in Wirklichkeit nicht existieren.

Dieses unlebendige Konstrukt lebt nur durch die Beseelung, die man ihm schenkt – die Identifikation mit ihm. Durch eigenes Zutun. 

Im reifen Zustand der Meditation, im Zustand des Nicht-Tuns, wird dem denkenden Geist das Leben entzogen und alles stürzt in sich zusammen. Das gesamte „ich“ und mit ihn eine ganze Welt. 

Was bleibt bist „Du“. Tat tvam asi.

Was zurückbleibt ist das, was immer was, ist und was immer sein wird.

Die ewige Seele (Bhagavad gita 2.12)