Das Leid der Freude

Wenn Tugend und kosmische Laster gemäss dem karma Gesetz angenehme beziehungsweise schmerzliche Erfahrungen erzeugen, mag die Frage auftauchen? "Warum schlägt man nicht den Weg der Tugend ein, um zu gegebener Zeit, eine ununterbrochene Reihe angenehmer erfahrungen zu machen und alle schmerzlichen Erfahrungen auszuschalten? Selbstvertändlich würden die Ergebnisse verwerflicher Taten, die wir in der Vergangenheit begingen, noch eine Zeitlang in Erscheinung treten. Wenn wir aber im Bemühen für das Gute fortfahren, muss irgendwann eine Zeit kommen, zu der sich die Samskaras und karma, die durch verwerfliche Taten und Gedanken in der Vergangenheit geschaffen worden waren, sich erschöpfen und das Leben fortan aus einer Kette von Glückserfahrungen sein müsste. 

Dieser Gedanke spricht jene an, die sich in der Welt glücklich einrichten wollen. Die Philosophie der Kleshas (die Grundleiden im materiellen Dasein) wird ihm unnötig hart und pessimistisch vorkommen, und das Ideal eines ehrlichen, ethischen und reinen Lebens scheint ihm eine Lösung für das grosse Lebensrätsel zu bieten. Es wird sein inneres moralisches Gefühl befriedigen und ihm das glückliche, angenehme Leben sichern, nachdem er trachtet. Das orthodoxe-religiöse Ideal, das die Menschen auffordert, gut und moralisch zu sein, auf dass sie hier und im Jenseits ein glückliches Leben haben, ist effektiv eine Konzession an die menschliche Schwäche und den Wunsch, lieber glücklich in der Welt zu leben als Erleuchtung und Wahrheit zu erfahren. (Bin ich lieber ein glückliches Schwein oder ein unglücklicher Philosoph?)

 

Selbst die Wunscherfüllung, die momentane Kongruenz unserer Vorstellungen mit den karmischen Geschehnissen, was als Freude empfunden wird, ist Leid, denn ständig begleitet uns Verlustangst (das Wissen vom Ende). Zudem ändert sich auch unsere karmische Konstellation und in uns drin werden neue Vorstellungen geboren und dies kreiert, selbst in der gleichbleibenden äusseren Situation, eine Dissonanz, das heisst Leid. Es ist nicht die Erfahrung der angenehmen Umstände, die das Leid kreiert, aber unsere Anhaftung an sie, so wie es nicht die unangenehmen Umstände in sich sind, die das Leid erzeugen, sondern die Verhaftung an unsere Vorstellung, wie es zu sein hätte.

 

Abgesehen von der Undurchführbarkeit eines vollkommen tugendhaften Lebens beruht diese Vorstellung auch auf der Täuschung, was ein Durschnittsmensch unter Glück versteht.

Erst wenn die Seele bis zu einem gewissen Grade die Täuschung erkannt hat, die dem sogenannten Glück zugrundeliegt, dem er in der Welt nachjagt, vermag er dieses sinnlose Bemühen einzustellen und sich mit ganzem Herzen der Aufgabe zu widmen, jene Wirklichkeit zu suchen, in der allein wahrer Frieden und Freude zu finden sind. 

 

In den Yoga sutras von Patanjali (2.15) wird erklärt, dass für den Erwachenden alle Erfahrungen in der Welt tatsächlich oder potentiell - wie bei freudvollen Erfahrungen -  leidvoll sind. 

Das Leben wird von dem unbarmherzigen Gesetz des Wechsels regiert, welcher alldurchdringend ist und sich zu jeder Zeit auf jedes Ding auswirkt. Nichts in der Welt - vom Sonnensystem bis zum Staubkorn - ist beständig, alles ist im Fluss, wie langsam sich auch der Wechsel vollziehen mag, dass man seiner nicht einmal gewahr ist. Eine der Wirkungen der Maya besteht darin, uns der ständig in und um uns stattfindenden Veränderungen unbewusst zu bleiben zu lassen. Die Menschen fürchten sich vor dem Tod, aber sie sehen nicht, dass der Tod lediglich ein Zwischenfall in der fortlaufenden Reihe der Veränderungen in und um uns ist. Wenn die Erkenntnis dieses unaufhörlichen, erbarmungslosen Wandels, dem alles im Leben unterworfen ist, in einem Menschen heraufdämmert, beginnt er zu begreifen, was Täuschung ist. Es ist die Identifizierung, sich selbst mit den Fluktuationen gleichzusetzen, obwohl man eigentlich nur deren Erleber, dessen Wahrnehmer ist. Dies ist das Vergessen seines eigenen Ewigseins und dessen Eintausch mit dem konstanten Tod, der ewigen Veränderung, in welcher man sich freiwillig plaziert hat. 

Diese Erkenntnis ist eine ganz bestimmte Erfahrung und ein Aspekt von Viveka, der Unterscheidungsfähigkeit. Der gewöhnliche Mensch ist so tief in dieses Scheinleben eingetaucht, in das er sich verstrickt hat, und so fast eins mit ihm geworden ist (ein kleiner Spalt des Zweifels bleibt auch im verbautesten Leben erhalten..), dass er nicht imstande ist, sich gedanklich von diesem rasch dahinfliessenden Strom zu distanzieren. Theoretisch mag er das Gesetz des Wechsels anerkennen, doch kann er es nicht bewusst erleben.

Das erste Ergebnis dieser Vergegenwärtigung, wenn Viveka heraufdämmert, ist Furcht. Der Grund unter den Füssen scheint hinweggerissen zu werden. Wir glauben, dass unsere Füsse keinen Halt mehr haben und es nichts gibt, woran wir uns in diesem raschen Dahinströmen der Zeit und der materiellen Dinge festhalten könnten. Das ganze Universum scheint eine wirbelnde Flut von Erscheinungen zu sein, gleich dem unter einer Brücke dahinströmenden Wasser. Menschen und Dinge um uns herum, die uns doch so wirklich erschienen, werden in dem sich vor unseren Augen abwickelnden Panorama zu blossen Phantomen. Wir scheinen im Leeren zu stehen, und das Grausen vor unaussprechlicher Verlassenheit packt uns. 

Was tut man, wenn diese Erkenntnis plötzlich oder als Folge tiefen, beharrlichen Nachdenkens über die wirkliche Natur der materiellen Schöpfung in einem erwacht? 

Gewöhnlich beunruhigt und erschreckt sie uns, und man versucht sie wieder abzuschütteln, indem man sich noch heftiger in die Geschäfte und Interessen des Weltlebens stürzt, selbst wenn man theoretisch weiter an die Unwirklichkeit der Dinge um einen herum glaubt. Wenn man aber nicht versucht, diese erschreckende Vision auszuschalten, sondern sie ganz klar ins Auge fasst und kontempliert, dann wird man unter diesem dahinfliessenden Strom der Erscheinungen zunächst etwas ahnen und später zu unterscheiden vermögen, etwas, das verweilt, das jenseits des Wechsels liegt, und einen viel fundierteren Standpunkt ausmacht als die vorher angenommene Sicherheit auf den Schollen der Zeit. 

Man erfährt, dass die Erscheinungen sich ändern, aber nicht das, worin die Erscheinungen auftreten. Zuerst nimmt man dieses Begreifen nur verschwommen wahr, doch später wächst es zu einer vollen Erkenntnis heran. Doch erst muss man das Tal der Furcht durchschreiten. Man muss die ganze solide Welt der Menschen und Dinge in sich auflösen und in einer Flut blosser Erscheinungen verschwinden sehen, ehe man die hinter dem Unwirklichen verborgene Wirklichkeit zu erblicken imstande ist. Man erlebt sich als ewige Seele, die als Standpunkt das Vorbeifliessende erlebt, aber es nicht ist. Die Gemeinschaft des Heiligen Namens (nam-japa) führt einem da weiter bis hin zu svarup-siddhi, dem direkten Erkennen der ewigen Form der Seele.

In dieser Erfahrung erlebt man die Kleinlichkeit und das Mitleiderregende an einem Leben in den Scheinidentitäten an der Oberfläche, der Jagd nach kleinen Freuden und Ambitionen, der Vergänglichkeit von Liebe und Glück, woran sich die Menschen so verzweifelt klammern, dem kurzlebigen Ruhm des Machthabers, der Anstrengung, an Dingen zäh festzuhalten, die dann dennoch aufgegeben werden müssen. Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen verblassen selbst die köstlichsten Vergnügungen und die glänzendsten Leistungen zur Bedeutungslosigkeit, ja, sie verwandeln sich sogar in Leid. Es ist das Nichterkennen der Täuschung, die einen die Sinnenimpulse als angenehm empfinden lässt, welche aber eine potenzielle Quelle von Leid sind und uns anspornen, weitere solche Vergnügungen zu ersehnen. Der Viveki (der Unterscheidende) erkennt darin das potenzielle Leid, und sieht nicht nur das in aktiver Form vohandene.

Es ist üblich, einen zum Tode Verurteilten zu fragen, welche letzten Annehmlichkeiten er sich vor seiner Hinrichtung noch wünscht, welches Getränk oder welche Speise er noch  zu sich nehmen möchte. Doch jene, die einen solchen Menschen das letzte Mal seiner Laune nachgeben sehen, sind sich des eigentümlichen Pathos bewusst, das diesem Wunsch innewohnt, sich an etwas Angenehmes festzuklammern, kurz bevor er getötet wird. Demjenigen, der das scharfe Unterscheidungsvermögen entwickelt hat, erscheint die armselige Jagd nach Vergnügen, Befriedigung des Ehrgeizes und derlei Betriebsamkeiten in einem ähnlichen Licht. In gewisser Weise sind wir alle zum Tode verurteilt, sind uns dessen nur nicht bewusst und wissen auch nicht, wann das Urteil vollzogen wird. Wüssten wir es, dann würden die sogenannten Vergnügungen aufhören vergnüglich zu sein. (SB 11.10.20) Für einen Menschen, der die Tatsache, dass wir uns in irrsinniger Geschwindigkeit auf unser Ablaufdatum hinzubewegen, nicht verdrängt, wird es schwierig, sich an der Fluktuation an der Oberfläche zu erfreuen.

 

Die zweite selbst in aller Freude innewohnende Trübsal ist Furcht. Alles Vergnügen, Wohlleben und das sogenannte Glück sind bewusst oder unbewusst mit Furcht verbunden. Dann das Schwelgen in Freuden und die Abhängigkeit unseres Glückgefühls von den unsicheren und vergänglichen Dingen der Aussenwelt, an die wir uns klammern, flösst uns die Angst ein, diese angenehmen Dinge zu verlieren. Das ist der Sand im süssen Reis drin. Diese Angst existiert auch in der nicht-wahrgenommen Form als feine Spannung, die den Menschen konstant verunsichert und selbst die Momente der Freude durchzieht, was ganz unbemerkt das Leben vergiftet. Wir mögen zu stumpfsinnig sein, um sie wahrzunehmen oder mental zu stark, um ihr zu gestatten, uns merklich zu beunruhigen, doch es gibt nur wenige Menschen, die sie überwunden haben. 

 

Das dritte Leid in der Freude heisst Samskara. Dieses Wort heisst eigentlich "Eindruck im Geist" aber auch "Gewöhnung". 

Es gibt ein Naturgesetz, wonach jede von uns durchgemachte Erfahrung einen Eindruck im feinstofflichen Körper hinterlässt. Der so erzeugte Eindruck bildet einen Kanal, und mit jeder Wiederholung der Erfahrung wird der Kanal tiefer. Dies bringt uns dazu, Gewohnheiten verschiedener Arten anzunehmen sowie uns an eine bestimmte Art Umgebung, Lebensweise und Vergnügen zu gewöhnen. Doch gleichzeitig ist auch das bereits erwähnte Gesetz des Wechsels am Werke, das unsere äussere Umgebung ständig verändert und uns jeden Moment in eine neue Umwelt mit anderen Zuständen und Menschen hineinstellt. Das Ergebnis des gleichzeitigen Wirkens dieser beiden Naturkräfte ist, dass wir ständig neue Gewohnheiten erwerben, uns an neue Lebensumstände gewöhnen müssen, um wieder aus ihnen verdrängt zu werden. Sobald wir uns in eine neue Gewohnheit oder Umgebung eingelebt haben, müssen wir sie wieder aufgeben, bisweilen allmählich, manchmal aber plötzlich und heftig. Diese fortgesetzte Notwendigkeit, sich dem Leben anzupassen, ist eine Quelle ständigen Unbehagens und Schmerzes. Die Natur vergönnt uns keine Verschnaufpause und treibt uns in immer neue Erfahrungen, obschon wir uns gerne in unseren eingefahrenen Gleisen und den erreichten angenehmen Positionen niederlassen würden. Der wache Mensch akzeptiert diese Notwendigkeit der Anpassung und versucht, sich mit ihr zu versöhnen. Doch die Tatsache besteht, dass dies eine der Kümmernisse des Lebens ist. 

 

Es gibt auch ständig Modifikationen der gunas (der Grundeigenschaften der materiellen Natur), welche auf unterschiedliche Weise auf den Menschen einwirken. Diese bewirken ständig Konflikte zwischen den natürlichen Anlagen und den ständig wechselnden Gemütsverfassungen. 

Ein Beispiel: ein Mensch ist faul infolge des Vorherrschens von Tamas in seinem Gemüt. Er hasst Aktivität; doch seine Lebensumstände zwingen ihn zu Anstrengungen, um sein Dasein zu fristen. So wünscht er sich ein friedliches, tatenloses Leben und dieser unaufhörliche ausgeprägte Wunsch trägt im nächsten Leben Früchte, in dem er sich in einer Umgebung wiederfindet, die ihn zur Untätigkeit zwingt. Vielleicht wird er Leuchtturmwächter. Doch ist vielleicht in jenem Leben Rajas in seinem Gemüt vorherrschend, und es verlangt ihn nach Taten in einer Umwelt, in der nicht viel Betriebsamkeit möglich ist. So ist er erneut unzufrieden mit seinem neuen Los. 

Krishna erklärt in der Bhagavad Gita (14.10) wie die Einflüsse der gunas immer wieder anders wirken und so sind sie praktisch immer in einer Disharmonie mit dem momentanen Set von Wünschen des Lebewesens. Jede Person in der Welt würde sein Schicksal ein wenig abändern, wenn er es zu tun vermögte. Der Weise erkennt die Unabänderlichkeit all dessen und verzichtet daher freiwillig auf das Stützen auf seine momentane Wetterlage der Vorstellungen, und in dem Gleichmut ist mehr Frieden als im Herumarrangieren mit den mutierenden Einflüssen der gunas. Und wie kann es Glück ohne Frieden geben? (BG 2.66)

 

All unsere Lebensbedingungen sind Folgen unserer eigenen Wünsche der Vergangenheit. In der Zeitspanne, die ein bestimmter Wunsch bis zu seiner Erfüllung braucht, mag er durch andere Wünsche anderer und manchmal sogar entgegengesetzter Art verdrängt worden sein. Es liegt in der Natur der Dinge, dass unsere Wünsche sich nicht sofort erfüllen. Das ist eine der Bedingtheiten des dreidimensionalen Raumes. Während dieser Zeitschlaufe, die es zur Umsetzung unserer Wünsche braucht, kann unser Wesen, unser Temparament, und unsere Wünsche einen markanten Wandel durchmachen, und wenn wir die Erfüllung unseres eigenen Wunsches erleben, mag es uns schwer fallen zu glauben, dass wir selbst das herbeigewünscht haben, was uns jetzt geschieht. 

 

Das Vorhandensein dieser Grundleiden führt dazu, dass niemand, der Viveka, geistiges Unterscheidungsvermögen, entwickelt hat, das sogenannte Glück des gewöhnlichen Lebens für wirkliches Glück zu halten vermag. 

Für einen Weltmenschen, der in seiner illusorischen Jagd nach Sinnesobjekten, Vergnügen und Macht  verstrickt ist, mag es sein, dass sein Leben aus einer Mischung von Annehmlichkeiten und Trübsal, Freuden und Leiden zu sein scheint. Aber für einen Erwachenden, dessen geistige Kapazität langsam hervorkommt, ist ein solches Leben nur Leid und dessen illusorisches Glück nur eine verzuckerte Pille, deren Inneres nichts als Leid und Schmerz birgt. 

Diese Feststellung mag so aussehen, als gäbe sie ein ganz entstelltes Bild des Lebens. Wenn der nach Wahrheit Strebende über diese Tatsachen tief nachdenkt, wird er möglicherweise zu dem gleichen Schluss kommen. 

Und diese Erkenntnis ermöglicht ihm, eine Freude zu erfahren ganz jenseits der kleinlichen temporären Annehmlichkeitsgefühle, die in der Welt als Freude bezeichnet werden.

Das ist ananda, die reelle Freude im Austausch als ewige Seele mit ihrem ewigen Gegenüber - Sri Krishna.