Offener Brief an denkende Menschen

 

„Die Damen und Herren haben sich feingemacht. Abendanzug, langes Kleid. Der Kellner verneigt sich. Er führt die Herrschaften zu ihrem für diesen festlichen Abend reservierten Tisch.

Seoul, Korea, eine Nebenstrasse im Stadtzentrum. Dieses Lokal ist weithin berühmt und bekannt. Zwar teuer, aber die Gerichte äusserst lecker, hatte der Taxifahrer versprochen. Herr Dollmeyer liest noch die Speiskarte. Alles schwer verständlich. Er sieht auf, und beobachtet eine Vierergruppe, die soeben lachend und offenbar äusserst hungrig am Nebentisch Platz genommen hat. Es ist ein ganz normaler Tisch. Auffällig ist nur das Loch in der Mitte der Tischplatte. Wozu das wohl gut sein mag, überlegt Herr Dollmeyer. Für einen überdimensionalen Sonnenschirm? Kaum, dafür ist es zu gross, und das Lokal hat auch gar keinen Garten. Vielleicht für einen Topf, der dann von unten erhitzt wird, so wie man es aus der japanischen Küche kennt.

Dollmeyer bestellt, isst und vergisst den Nebentisch. Eine halbe Stunde vergeht. Jetzt bringt der Kellner etwas an den Nebentisch – nein, nicht nur das Besteck, sondern vier Hämmerchen. Für jeden der Gäste einen. Dollmeyer staunt und beobachtet weiter. Er weiss noch nicht, dass ihm in wenigen Minuten der Atem stocken wird, dass er leichenblass auf die Toilette wanken und das Essen wieder auskotzen wird. Wozu die Hämmer, überlegt er. Sie sind fast zierlich, aber man kann damit bestimmt kräftig zuschlagen. Eine koreanische Sitte?

 

Da kommt der Kellner wieder. Er trägt einen kleinen Affen im Arm, der heftig strampelt. Herr Dollmeyer legt das Messer und die Gabel weg und starrt entsetzt auf die Szene am Nebentisch. Die vier unterhalten sich ganz gelassen weiter. Sie begrüssen den Kellner und den neuen ungewöhnlichen Tischgast sogar mit freudigem Zurufen, als hätte er endlich das langersehnte Essen gebracht. Dollmeyers Augen werden gross. Der Kellner steckt den Affen, der vor Angst laut schreibt, geschickt durch das Loch. Offenbar betätigt er nun einen kleinen eingebauten Schieber, der das Loch so verkleinert, dass nur noch der Kopf des Affen über den Tisch ragt.
Der Affe hängt nun praktisch am Hals im Tisch. Seine Augen sind weit aufgerissen. Er ringt nach Luft. Die anderen Gäste im Lokal sehen nicht einmal hin. Der Kellner tritt einen Schritt zurück und verneigt sich. Die vier Gäste nehmen die Hämmer in die Hand. Dollmeyer hält den Atem an. Nacheinander schlagen alle vier mit voller Wucht dem Affen auf den Kopf. Sein Schreien wird fast unerträglich. Dreimal sausen die Hämmer nieder, insgesamt zwölf kräftige Schläge. Jetzt verstummt das Schreien langsam, das die ganze Zeit das Stimmengewirr im Lokal übertönt hat. Dollmeyer wird schlecht. Der Affe ist tot. Mit immer noch weit aufgerissenen Augen sieht das ermordete Tier über den Tisch direkt zu dem Deutschen herüber.

Der Kellner tritt wieder an den Tisch. Aus der Tasche zaubert er ein offenbar rasierklingenscharfes Messer heraus. Damit trennt er dem Affen jetzt kreisrund die Schädeldecke ab. Wieder verneigt er sich. Die vier unterhalten sich, als wäre das alles vollkommen normal. Jetzt greifen sie zu kleinen Löffeln. Nacheinander löffeln sie das warme Affenhirn aus dem oben offenen Schädel und essen es. „

(aus „Schutz für Mensch, Tier und Umwelt“, Aug-Sep 1991, S.16)

 

Ist das nicht ganz furchtbar? – Doch bevor man sich da zu sehr erregt, sollte man sich überlegen, ob unser Umgang mit Tieren um so vieles anders ist. Sicher, wir essen keine Affen. Dafür essen wir aber Tiere, die in anderen Kulturen niemals verzehrt würden. Zum Beispiel Kühe und Schweine.

„Bei uns werden die Tiere aber nicht bei Tisch getötet!“ Das ist richtig. Bei uns werden sie einige Meter weiter in der Küche umgebracht. Oder im Schlachthaus. Allerdings kennen auch wir das prickelnde Gefühl, dass ein bestimmtes Tier zu unseren persönlichen Vergnügen ermordet wird: Man denke nur an die Spanferkel-Essen, an das Servieren des – hübsch und lustig hergerichteten – ganzen Schweinkopfes oder an das Aussuchen eines bestimmten Fisches, den der Koch für uns umbringen und zubereiten soll.

Wozu also die ganze Aufregung über das Affenhirn-Essen?

Wir gehen mit den Tieren auch nicht viel anders um. Oder doch? Richtig! Wir bringen die Tiere, auf die wir uns festlich gekleidet stürzen, nicht selber um, sondern überlassen das anderen. Ist das nicht ein Fortschritt?

Es zeugt von Heuchelei, wenn ein Fleischesser mit Verachtung auf die Schlachter hinabblickt; denn der Mensch ist nicht nur verantwortlich für die Handlungen, die er selber ausführt, sondern auch für die, die er von anderen ausführen lässt.

Wenn jeder Mensch, der Fleisch essen will, die Tiere selber schlachten müsste, könnten die wenigsten überhaupt noch Fleisch verzehren. Dies zeugt noch von einer gewissen Grundmoralität im Charakter des Durchschnittsmenschen. Nicht die meisten, aber eine grosse Anzahl Fleischesser würden zur vegetarischen Lebensweise übergehen, wenn sie sich Fleischnahrung nur dadurch verschaffen könnten, dass sie selber die Tiere schlachten, ihnen die Gedärme aus dem Bauch nehmen und die Tierleichen zerstückeln. Alle Fleischesser aber, welche eingestehen, dass sie  aus ethischen Gründen zu solchem Mord unfähig wären und Abscheu dagegen empfänden, sprechen sich damit selber das Recht zum Fleischessen ab.  Arbeitsteilung ist zwar notwendig; und es ist durchaus berechtigt, dass ein Mensch es ablehnt, eine Arbeit, die ihm Nutzen bringt, selber auszuführen, weil er durch andere Arbeiten mehr Gutes schaffen kann als durch diese, oder weil andern Menschen diese Arbeit weniger unangenehm ist als ihm. Wenn aber ein Mensch eine Arbeit deshalb nicht ausführen will, weil sein ethisches Gefühl sich dagegen sträubt oder weil er sich vor der abstumpfenden (denn infolge der Gewöhnung an die Verursachung der rohen Handlung des Schlachtens, stumpft das Fleischessen das Mitleid und das Gerechtigkeitsgefühl ab) Wirkung dieser Arbeit schützen will, so handelt er ungerecht, wenn er andere Menschen veranlasst, sie auszuführen.

Nun werden einige einwenden: "Aber ich als einzelner kann ja doch nichts verändern oder bewirken. Wenn ich aufhöre, Fleisch zu essen, so nützt das den Tieren gar nichts, weil die anderen weiter Fleisch essen werden. Mein Nichtfleischessen fällt doch überhaupt nicht ins Gewicht!"

Dies ist, moralisch gesehen, eigentlich eine merkwürdige Argumentation. Bedenken wir: Jeden Tag verhungern auf der Welt Tausende von Menschen. Jeden Tag werden Tausende von Menschen umgebracht. Wenn ich jetzt auch noch einen umbringen würde, so fiele das auch nicht ins Gewicht! Dennoch denken und handeln wir nicht so. Mehr noch: Eine solche "Rechtfertigung" erschiene uns völlig abwegig. Warum sollte das in bezug auf unseren Umgang mit Tieren anders sein?

Weiter: Die Fleischindustrie ist ja nicht der einzige Bereich, in dem Dinge, die wir verurteilen, geschehen, ohne dass wir sie durch unser konkretes Handeln direkt beeinflussen können. Beim Wettrüsten war es beispielsweise genauso. Was haben wir da gemacht?

Wir haben dagegen demonstriert! Fleisch zu verweigern, ist auch eine Art Demonstration. Wir zeigen damit, dass wir es falsch finden, unschuldige, leidensfähige Lebewesen für so triviale Zwecke wie unsere Geschmacksvorlieben zu quälen und umzubringen. Fleisch zu verweigern, ist hier aber nicht irgendeine Demonstration, sondern die einzig glaubwürdige und daher die einzig erfolgversprechende Demonstration.

Berthold Brecht schreibt in einem Kurzgedicht:

„Eurem Bruder wird Gewalt angetan, und ihr kneift die Augen zu!

Der Getroffene schreit laut auf, und ihr schweigt?

Der Gewalttätige geht herum und wählt seine Opfer

Und ihr sagt: "uns verschont er, denn wir zeigen kein Missfallen."

Was ist das für eine Stadt, was seid ihr für Menschen!?

Wenn in einer Stadt ein Unrecht geschieht, muss ein Aufruhr sein.“

Vielleicht liegt der Beginn der Aufruhr darin, indirektes Töten von Tieren einzustellen - durch eine vegetarische Lebensweise.