Wenn Glaube krank macht

 

 

Religion in dieser Welt ist immer eine Mischung von Transzendenzbezug, Urvertrauen (faith) und einer Vielfalt an Phänomenen, die historisch beschreibbar sind, die kulturell angepasst sind, die auch die kollektiven Werte der geographischen Gegend miteinbeziehen sowie die Landesfolklore (believe and cumulative tradition).

 

-Religion ist Wahrnehmung des Endlichen – was nur von einem Standpunkt der Unendlichkeit möglich ist.

-Religion ist die Sehnsucht nach perfekter Abhängigkeit

-Religion ist der Ausdruck von fundamentalsten und umfassendsten Werten

-Religion ist ein Zustand des Ergriffensein dessen, was einen unbedingt angeht (P. Tilich)

-Religion ist die Lehre, die zwischen Absolutem und Relativem unterscheidet

-Religion ist eine Methode, sich aufs Wirkliche zu konzentrieren

-Religion ist der Bezug auf eine transzendente Wirklichkeit

-Religion vermittelt einen Deutungshorizont

-Religion ist ein Begegnungsraum mit Gott.

 

 

Für viele Menschen hat der Glaube aber nicht diese befreienden und lebensentfaltenden Wirkungen, sondern ist, wie Marx sagt, eher ein Seufzer einer bedrängten Kreatur.

 

Viele Menschen sind belastet durch eine religiöse Erziehung und fragwürdigen Gottesbildern, die sie nicht frei machten, sondern krank;

die in ihnen nicht Freude entfaltete, sondern Schuld;

die sie nicht demütig machten, sondern minderwertig;

die sie nicht freier machten, sondern unselbständig und vertrauenslos in sich selber;

die sie nicht autark machten von der Unbeständigkeit der Phänomene in der Welt, sondern anlehnungsbedürftig;

die sie nicht eigenständiger machten, sondern fremdbestimmt;

die sie nicht ungezwungener werden liess (angesichts der Ewigkeit des Selbst), sondern verknorzter;

die sie nicht sehnsüchtiger werden liess, sondern gesättigt;

die sie nicht von innen leben liess, sondern noch vermehrt von aussen her;

die sie nicht unvoreingenommen werden liess, sondern programmiert;

die es verunmöglichten, die anderen Menschen in geschwisterlicher Weise zu sehen, sondern als Bedrohung,

die sie nicht offen für das Geheimnis Gottes machten, sondern gefangen in Doktrinen;

 

Es gibt eine Spiritualität, die den Menschen krank macht. Sie kann überfordern mit ihren heiligen Ansprüchen und erzeugt einen Erlangungs-Stress. Es gibt auch eine Spiritualität, die einen kleinhält, depressiv stimmt, die Kreativität und Spontaneität durch Legalismus und Dogmatismus tötet oder mit falschen Schuldgefühlen belädt.

Jede Spiritualität, die spaltet, macht krank. Wenn man das heilige Leben dazu benützt, sich mit frommen Gedanken und Gefühlen einzulullen, dabei aber der eigenen momentanen Wirklichkeit ausweicht, dann wird es nicht zu einem Ganzwerdungsprozess, sondern zu einer Betäubung im Sinne von Marx.

Die gesunde Spiritualität lädt alle Anteile in sich ein, hält sie aber Gott hin, um sie in ihm aufgehoben zu wissen.“

Das bedeutet natürlich nicht, dass dies bereits das Endziel sei. Aber man kann nur verwandeln, was man wirklich angenommen hat. Was man verdrängt, rumort in der Unbewusstheit noch stärker weiter.

 

 

Viele erleben sich durch die Theopraxis gehemmter, unterdrückter und in einem Grundgefühl der Angst. Der Glaube macht ihnen Angst, beschwert sie, ist Last und nicht Inspiration, ist Pflicht und nicht Freude, wird plötzlich zu einem Gefühl allgegenwärtiger Kontrolliertheit.

 

Das alles führt natürlich verständlicherweise zu religiösen Verletzungen. Diese tragen wir dann auch noch als unbewusste Erinnerung aus vergangenen Leben mit uns (als disfunktionale religiöse samskaras - Erfahrungen)

Dies hat verständlicherweise ein spirituelles Desinteresse und Indifferenz zu Gott zur Folge.

 

Das führt zu Glaubensverlust, und Abkehr vom Heiligen ist für viele die Folge. Und weiter noch: Religionsverlust oder sogar Gottesverlust und Gottesvergiftung.

Das Symptom davon ist eine vollkommen säkularisierte Welt, in der man über alles sprechen kann ausser über das Heilige, das tabuisiert wurde, sowie ein unbegrenzter Hedonismus, der ein Gottesersatz, eine Kompensation wurde.

 

Dieses Phänomen nennt man die „ekklesiogene Neurose“- eine durch fragwürdig vermittelten Glauben religiös bedingte Persönlichkeitsspaltung. Und die weitverbreitete Präsenz davon lässt darauf schliessen, dass dies nicht einfach nur eine Erscheinung in sektenhaften Randgruppen ist, sondern auch in etablierten Konfessionen. Die Anforderungen, die die Struktur der Religion gefordert hat, war in einem tiefen Gegensatz zum innersten Nachfühlen. Durch das Schlucken solcher Überzeugungen wird man zwar Teil der Gruppe, aber verliert sich selber und praktiziert im Namen der Selbstverwirklichung eigentlich eine Selbstentfremdung. Der Preis wird dann irgendwann einmal zu hoch. Die rebellische Unwilligkeit forderte aus dem Innersten heraus den Bruch mit dem Anpassungswillen, welcher einem in der spirituellen Gruppe zum Teil machte und einem sozialen Rückhalt und Verbundenheitsgefühl schenkte.

 

 

Was ist das Gottesbild der disfunktionalen Religion?

 

-Gott ist die Funktion des Über-ich, welches den gläubigen Menschen in Schuldgefühl und Angst schnürt, so dass dieser immer hilflos an die Rettung von aussen appellieren muss.

 

-Gott sieht alles, hört alles, weiss alles und Gott wird alles abwägen und bestrafen, was man sagt, denkt und tut.

Das ist entwürdigend und behindert eine selbstständige Entwicklung und gesundes Wachstum. Gott verneint, verbietet, verhindert, schränkt ein und droht.

Das Resultat ist das Leiden an Minderwertigkeitsgefühlen. Dann wird einem gesagt: „Du hast doch Gott als Vater, den Allmächtigen. Mit Gott auf deiner Seite kannst du allem mutig entgegentreten.“

Wenn dies nicht gelingt, ist man noch erniedrigter, da man denkt, nicht richtig gebetet zu haben und die Schuldgefühle und Versagensängste nehmen zu.

 

-Gott wird zum Ersatz nicht vorhandener Beziehungen, nicht erlangten Erfolgen oder fehlenden Bedürfnissen. Dann hängt man sich an das Bild, an die Vorstellung Gottes genauso an, wie wenn man sich an seine weltlichen Bedürfnisse hängen würde und das Resultat wird auch das Gleiche sein – nämlich Leid.

 

-Gott ist ein Leistungsgott, der zu Aktivismus antreibt. Das calvinistische Denken findet sich nicht nur im christlichen Kontext: „Gottes Segen zeigt sich in äusserer Macht und im Wohlstand (=die Erfolgreichen haben meht Gnade von Gott) und der fleissige und siegreiche wird einen Platz im Himmel haben, denn Gott zeigt sein Erwählt-sein schon jetzt: im Ansehen und Reichtum.“

 

-Ein Richter-Gott– das Resultat sind Schuldgefühle

-Ein Straf-Gott mit einer Jenseitsbedrohung (Hölle) – das Resultat ist Angst vor diesem Monster-Gott.
Das ist genau, was abendländische Gotteserfahrung eigentlich darstellt:

 

Gefühl des Schreckens vor dem Heiligen     - mysterium tremendum

Gefühl des Übermächtigen                           - majestas

Gefühl der religiösen Scheu                          - mysterium fascinans

 

 

 

-Ein fordernder Gott – das Resultat ist Abhängigkeit

 

-Gott (die Religion) vermittelt ein Weltbild, dass überall an jeder Ecke nur Gefahr, Versuchung und Bedrohung herrsche. Das führt zu rigiden Einschränkungen und Regeln, zu Fundamentalismus. Der Mensch kommt dann oft mit den hohen Ansprüchen nicht zurecht und scheitert im Alltag.

 

-übermässige Projektion und Hoffnung auf das Jenseits gerichtet, lässt einen oft unfähig im Diesseits werden und man wird so weltfremd (anstatt versöhnt mit allem), dass man ohne jeglichen Bezug zur dieser Realität sein Dasein fristet.

 

Mit anderen Worten: Religion kann so eng werden, zu solcher Selbstentfremdung führen, so gesetzlich versteinert, dass sie Teil des Krankheitsproszesses wird.

 

 

Wie heilen?

 

-ein vernünftiger Glaube wird durch den Zweifel nicht erschüttert, sondern gefestigt und bekräftigt. Wahrheit scheut die genauere Untersuchung nicht, nur die Lüge.

Echte Gottessuche setzt voraus, dass religiöse Fragen, Sinnfragen und spirituelle Themen in einer offenen, aufgeklärten, nicht dogmatisch vorbelasteten, religiös nicht gebundenen Atmosphäre erforscht und reflektiert werden können.

 

 

-Es braucht das Eingestehen, dass man durch disfunktionalen Glauben krank wurde. Und sich dabei hüten, bitter zu werden und nur anderen Vorwürfe zu machen.

 

-meistens erfordert das einen Unterbruch in der bisherigen Praxis, um sich deprogrammieren zu können. Und man erkennt, dass man von Gott nicht gerade zurückgewiesen wird, dass man nicht bestraft wird dafür, dass man immer noch gleich geliebt ist. Und das ist der Anfang einer neuen Beziehung.

 

Eine interessante Beschreibung von der Abnabelung von einem kranken Gottesbild findet man in dem Roman von Isaac Bashevis Singer (1904-1991) „der Schlächter“. Er beschreibt

einen jüdischen Dorf-Schlächter, dem plötzlich die Ungerechtigkeit seines Tuns bewusst wird, das religös gerechtfertigt wird.

„Ich verzichte auf deine Gunst, Gott!“, ruft er. „Ich fürchte mich nicht mehr vor deinem Gericht! Ich habe mehr Mitgefühl als Gott, der Allmächtige – viel viel mehr! Er ist ein grausamer Gott, ein Mann der Krieges, ein Gott der Rache. Ich werde ihm nicht dienen!“

Er geht in die Küche und holt die Werkzeuge des Todes, seine Messer und den Schleifstein, und wirft sie im vollen Bewusstsein, eine Blasphemie zu begehen und die heiligen Instrumente zu entweihen, in die Grube.

Er legt seinen Gebetsmantel und die Gebetsriemen ab. „Das Pergament stammte von der Haut einer Kuh. Die Behältnisse für die Gebetsriemen waren aus Kalbsleder. Die Thora selbst bestand aus Tierhäuten.“

Er geht zum Fluss und ruft trotzig:

„Vater im Himmel, der du ein Schlächter bist! Du bist ein Engel des Todes!“ Seine Wut (die Kraft, etwas Krankes aus einem herauszuwerfen) wird mit jedem Schritt grösser.

Er wirft alles weg und verspürt die Freiheit eines Menschen, der sich all seiner Bürden entledigt hat.

 

-sich mit der Frage auseinandersetzen, ob man auch „nein“ sagen kann, wenn es dies im Innersten anzeigt. (Kann man in ein Kleidergeschäft gehen, Kleider ausprobieren und nichts kaufen? Oder fühlt man sich genötigt, nun halt aus Genehmlichkeit etwas zu kaufen). Je mehr Anpassung geschieht auf Kosten des innersten Willens, desto mehr entfremdet man sich.

Ein Handeln jenseits von Erwartungen anderer und auch befreit von dem Gottesdruck („sonst wird Gott enttäuscht sein“)

-Eine gute Methode, das Gottesbild zu wandeln ist, den religiös Abhängigen in die Rolle Gottes schlüpfen zu lassen. Von erhöhtem Platz schaut man auf das eigene Elendshäufchen und spricht zu einem. Es überrascht, wie Gott dann plötzlich feiner, differenzierter, liebenswürdiger und mitfühlender wird und viel von der Strenge verliert.

 

Das Gottesbild in der Bhagavad gita

 

Freiheit ist der Angelpunkt in Bhakti. Ohne Freiheit kann man nicht von Bhakti sprechen, ohne Freiheit gäbe es keine echte Hinzuwendung. (SB 1.6.37). Freiwilliges Bemühen ist die einzige Qualifikation für spirituelle Vollkommenheit.

Aus diesem Grund kann es auch keine Hölle geben, denn nur schon ihre Existenz würde die Freiwilligkeit beeinträchtigen: „Entweder du gibst dich hin oder du musst in der Hölle braten.“

 

Wenn ein Vater seine eigenen Kinder anzünden würde und sie langsam zu Tode brennen liesse, dann wäre das ein Skandal und wir würden ihn als das schrecklichste Monster bezeichnen. Wie könnte Gott seine eigenen Geschöpfe für immer foltern? Dann wäre er das schlimmste Monster. Das Konzept der Hölle steht für ein Gottbild, dem Monster, von dem jeder denkende Mensch lieber Abstand hält.

 

Die Bhagavad-gita vermittelt das Gottesbild eines auf uns wartenden Gottes: mam tu veda na kascana (7.26) und eines Gottes, der freien Willen fordert (18.63), und der nur die Liebe will (9.26).

Gott in seiner Souveränität unterstützt die Seele auch in den Begehren, wenn sie von Gott weg führen (7.21) und er garantiert Furchtlosigkeit (18.66)

Krishna beschreibt sattva, ein Zustand des Glückes (sattvam sukham sanjayati 14.9), den man auch ohne Bewusstheit seiner selbst erlangen kann. Das ist kein neidischer Gott, der jemanden foltern will, wenn er ihn ignoriert. Krishna beschreibt urdhvam gacchanti sattva stha (14.18), dass man auf die höheren Planeten erhoben werden kann, wo man mit Licht und Engelwesen geniesst – und all dies in der Zurückweisung Gottes, im Widerstand zu ihm. Er ist souverän.

 

Das Gottesbild des Bhagavatam geht noch tiefer: es ist ein Gott, der nur seinen Geweihten dient (9.4.64).