Ikarus

-ein Gedanke über die Himmelsstürmerspiritualität

 

 

Dädalus war ein genialer Architekt in Griechenland. Zusammen mit seinem Sohn Ikarus ging er nach Kreta zu König Minos und baute ein gigantisches Labyrinth, das ein riesiges Ungetüm, den Minotaurus, gefangen hielt.

Aber durch seine freiheitliche Natur fiel er bei dem König in Ungnade und wurde inhaftiert, zuerst im Labyrinth selber und dann in einem steinernen Turm am Meer.

 

Die beiden Gefangenen legten immer ein wenig Brotkrümel ihrer Nahrung beiseite und gaben sie den Möven, die ihnen immer wieder Federn abwarfen. Dädalus und Ikarus sammelten diese vorsichtig und auch den Wachs, der von den Kerzen fiel.

 

Mit dem machte sich Dädalus ein Flügelpaar - die Federn befestigte er mit dem Wachs und die Flügel mit einer Schnur. Er lernte das Fliegen. Dann machte er ein zweites Paar Flügel für Ikarus und sie waren bereit für ihre Reise in die Freiheit.

Dädalus warnte Ikarus noch, nicht zu hoch zu fliegen, da sonst die Sonne den Wachs schmelzen könnte und er so abstürzen würde.

 

Als sie losflogen hielten die Fischer und die Schafhirten, die sie am Himmel fliegen sahen, für Götter.

Als sie Kreta langsam hinter sich liessen, wurde Ikarus übermütig, genoss die unendliche Freiheit und flog immer höher und höher.

Die Hitze schmolz den Wachs und die Federn fielen ab.

Hilfeschreiend fiel er wie ein Stock ins Meer und ertrank und nur ein paar wenige Federn blieben zurück an der Oberfläche.

Traurig, doch unfähig zur Hilfe, musste sich Dädalus dies alles ansehen. Er kehrte in seine Heimat zurück, und hängte die Flügel dann in den Tempel des Apollon, und liess sich nie wieder zum Fliegen verführen.

 

Das ist eine Erfahrung vieler Spiritualisten: Wir empfinden uns auch eingesperrt in das Labyrinth eines komplexen Lebens. Diese Erfahrung ist bereits ein erster Schritt zur Freiheit, denn die meisten Menschen fühlen sich in ihrer Bedingtheit, im Traum des kleinlichen Lebens ganz zuhause und aufgehoben.

Diese vergleicht das Bhagavatam mit jemandem, der gerade zur Exekution geführt wird, aber noch immer denkt, er könne doch noch etwas geniessen und kurz Halt machen um auszuruhen (SB 11.10.20)

Deswegen ist der auftauchende Wunsch nach Befreiung ein Symptom des Erwachens.

Durch eine geduldige und lange Praxis mag sich uns dann effektiv ein Tor zur Freiheit eröffnen. Wir können die Transzendenz mit der eigenen Anstrengung nicht erreichen. Das Paradoxe ist, dass uns aller Kampf und alles Bemühen nur dahinzu führt, einzugestehen, dass wir Bhakti, den Heiligen Namen, nicht erzeugen und produzieren können, sondern dass wir Sri Krishna in all diesen Anstrengung nur unseren ernst gemeinten Willen hinlegen, unsere echte Bereitschaft, die nun nicht einfach mehr nur ein Lippenbekenntnis ist. Aber wir kommen an die Grenze, wo wir nur eingestehen können, dass wir aus eigener Kraft notwendigerweise scheitern werden. Das ist das Umfeld, in welcher Offenbarung geschehen darf.

Jetzt braucht es aber noch die Fähigkeit, immer noch die eigenen Grenzen des Lebewesens zu erkennen, um auf dem Flug in die Freiheit an den Gefahren vorbei zu navigieren.

Das Übersehen-wollen der menschlichen Limitationen, die dann die Spiritualität in die Extreme treibt, ist der Punkt, an dem viele Spiritualisten wieder scheitern auf ihrem Flug der ewigen Heimat entgegen. Das erstaunliche ist, dass die wenigsten da noch die Dädalus-Worte, die Warnungen der heiligen Schriften oder der Heiligen der Vergangenheit, hören wollen. Sie leben ab dem Moment nicht mehr in der Wahrheit, sondern in ihrer Vorstellung der Wahrheit und die Natur eines Suchenden und Fragenden und auch Hinterfragenden ist plötzlich vernebelt. Man mag sich fragen, warum? Natürlich ist es Übermut, aber vorallem sind es die Fischer und Hirten, die den Ikarus für einen Gott halten. Das grösste für das Ego ist nicht, Präsident eines Landes oder vielleicht sogar der ganzen Welt zu sein, sondern ein Gott, ein Erleuchteter... Und das Resultat ist das Abtauchen im dunklen Meer.

Das ist eine Erklärung für die erstaunlichen (erschrecklichen) moralischen Abweichungen von religiösen Würdenträgern.

Die tiefen Werte der ewigen Welt brauchen Zeit, bis sie in die innersten Verfaserungen unserer Persönlichkeit eingesickert sind. Sie sind nicht mit einer Himmelsstürmer-Spiritualität zu erobern.

 

Sri Krishna erklärt genau dies im Srimad Bhagavatam (11.20.9)

"Solange ein Mensch nicht Loslösung (das ist etwas ganz anderes als die Abneigung!) zu den Objekten der Sinne erlangt hat, das heisst, einen inneren Gleichmut lebt, und solange man nicht gesättigt ist von fruchtbringendem Tun (dem normalen gewöhnlichen Leben in dieser Welt, das die Resultate seines Mühens mit sich selbst in einem Zusammenhang sieht) und nicht effektives Vertrauen in mat-katha-shravan (das Hören von Krishnas lila, das der Seele einen direkten Zugang verschafft zur Wirklichkeit) erlebt, soll man seine Pflichten in dieser Welt nicht aufgeben."

 

Das Fliegen ist eine Sache der Götter und nicht der Menschen. Während der spirituellen Praxis kann das Bewusstsein tatsächlich in das archetypische Reich der Götter vordringen und ideale Möglichkeiten verkörpern. Eine archetypische Identifikation bedeutet, dass man sich als ein vollkommenes Wesen erlebt, als eine befreite Seele. Die Welt der Götter ist verlockend – doch wer die süssen Früchte der Freiheit kostet, kann sich in dieser Glückserfahrung auch verlieren. Glaubt man, es könne ewig so weitergehen und man müsse nie mehr in die Realität von Zeit und Raum zurück, nie mehr Boden unter den Füssen spüren und Mensch sein, treten Probleme auf. Das wird zu einer Inflation des Selbst.

Wenn spirituelle Lehrer ihre Rolle missbrauchen, tun sie das meist nicht aus böser Absicht heraus. Umgeben von Schülerscharen, die ihn für vollkommen halten, glaubt er mit der Zeit selbst an die über ihn verfasste Pressemitteilung und identifiziert sich mit der ihm übertragenen Meisterrolle. So wächst der kollektive Wahn, von Lehrer und Schüler gleichermassen gefördert, jeweils in bester Absicht. Aber in diesem unrealistischen Erwartungsklima kann ein Lehrer leicht über die Stränge schlagen und wie Ikarus plötzlich der Überzeugung sein, ewig aufsteigen zu können.

 

 

Und vor allem braucht es die Demut, die sich einem nun plötzlich eröffnende Freiheit nicht zu missbrauchen, das heisst zu erkennen, dass einem damit auch eine neue Verantwortung aufgetragen wurde.

Die echten Spiritualisten (Dädalus) sind sehr vorsichtig mit den "Flügeln" (den Eigenschaften, mit denen sie sich in den Himmel erhoben) und legen sie immer wieder dem Gott im Tempel dar.

nirmitta matram bhava savya saccin (BG 11.33) "Mein lieber Herr, ich betrachte mich einfach nur als ein Werkzeug deiner selbst und somit ist auch das scheinbar Errungene Dein, und so fallen auch die Ehre und die Erfolge nicht mir zu, sondern einfach nur Dir."