Das zweite Vergehen gegen den Heiligen Namen

 

 

Im Nektar der Hingabe von Bhaktivedanta Swami und in praktisch allen anderen Beschreibungen der Vergehen gegen den Heiligen Namen wird das zweite Vergehen folgendermassen zitiert:

„Es ist ein Vergehen gegen den Heiligen Namen Gottes, die Namen von Halbgöttern wie Shiva oder Brahma dem Namen Vishnus ebenbürtig oder von ihm unabhängig zu halten.“

 

In dieser Übersetzung wird ein Polytheismus verurteilt. Dies ist eigentlich nicht wirklich nötig, denn die Person, die Krishnas Heilige Namen singt und sich an Krishna wendet, hat ja bereits ein gewisses Vertrauen in Krishna. In dieser Warnung vor den anderen Göttern schwingt stark ein judäo-christliches Gottesbild mit, das einen neidischen Gott proklamiert, der die Aufmerksamkeit nur auf sich gerichtet haben will und schlecht gestimmt ist, wenn neben ihm noch konkurierrende Gottheiten existieren.

In der Bhagavad gita sagt Sri Krishna aber ganz etwas anderes:

 

Wenn die Götter durch Opfer zufrieden gestellt sind, werden sie euch auch erfreuen, und wenn die Menschen auf diese Weise mit den Göttern zusammenarbeiten, werden sie empfänglich für das Letztendliche.“ (Bhagavad gita 3.10)

„Ich weile als Überseele im Herzen eines jeden. Sobald jemand den Wunsch hat, einen bestimmten Halbgott zu verehren, festige ich seinen Glauben, so dass er sich dieser bestimmten Gottheit hingeben kann.“ (Bhagavad gita 7.21)

 

Zudem steht im Sanskrit-Text nichts von Brahma oder Devas (Halbgöttern).

 

Das zweite Vergehen heisst im Sanskrit (Padma Purana, Brahma-khanda 25.15-18):

 

shivasya shri vishnor ya iha guna nam adi-sakalam

dhiya bhinnam pashyet sa khalu harinamahitakarah

 

shivasya – des Shiva

shri vishnor – des Vishnu

ya – wer

iha – hier

guna - Eigenschaften

nam – Namen

adi – und so weiter

sakalam – vollständig

dhiya – in der Betrachtung (während der Versenkung)

bhinnam – getrennt

pashyet – sehen

sa – er

khalu – sicherlich, ohne Zweifel

harinamahitakarah – begeht Vergehen gegen den Heiligen Namen

 

 

Die genaue Übersetzung:

 

„Wer hier (in dieser Welt) die Eigenschaften und Namen und so weiter (alles, was mit Krishna in Verbindung steht) in der Betrachtung (während der Meditation) als vollständig getrennt (von Krishna) sieht, der begeht ein Vergehen gegen den Heiligen Namen.“

 

 

Die Eigenschaften, Namen und Lila Gottes sind shiva, allglücksverheissend, da Krishna in seiner Absolutheit in ihnen existiert und aufgrund seiner Barmherzigkeitskraft in ihnen erfahrbar ist. Sein Name, sowie Seine Formen, Eigenschaften und lilas sind alle transzendental und unberührt von aller Vergänglichkeit. Wenn daher jemand versucht, die Absolute Persönlichkeit Gottes von seinem Namen oder seinen transzendentalen Formen, Eigenschaften und Spielen zu trennen, indem er diese für materiell hält, begeht er ein Vergehen. Dies bedeutet, weltliche Unterschiede im Heiligen Namen zu sehen. „Der Herr ist der Besitzer aller Universen und er mag an verschiedenen Orten unter verschiedenen Namen bekannt sein. Jeder Name, der sich auf den Höchsten Herrn bezieht, ist so heilig wie alle anderen, denn sie bezeichnen alle den Herrn.“ (Erläuterung zu Srimad Bhagavatam 2.1.11)

 

Dieses Vergehen bedeutet auch, Gott getrennt von der materiellen Erscheinung zu betrachten, also irgendetwas nicht in Beziehung zu ihm zu sehen und nur an den Dingen, an der Äusserlichkeit, hängen zu bleiben ohne den Urgrund, Gott, dahinter zu erahnen.

„Alles ruht auf mir wie Perlen auf einer Schnur.“ (Bhagavad gita 7.7)

 

Oder positiv ausgedrückt:

"Ich möchte nicht nur theoretisch, sondern ganz direkt verstehen, dass Sri Krishna und Sein heiliger Name identisch sind und dass es in allen vierzehn Welten nicht Kostbareres gibt als dieser Name. In diesem Verständnis, über sambandha-jnan (meine Beziehung zu Krishna) kontemplierend, möchte ich ganz hingegeben und mit grosser Freude (da es eine Priorität geworden ist) den Heiligen Namen meditieren."

 

Dieses Vergehen zu begehen bedeutet, in einem Dualismus befangen zu bleiben, in dem man Gott und seine Energie voneinander trennt. Das führt dazu, dass man die Welt als das Andere, als ein Gegenstück Gottes umschreibt.

 

Der Dualismus nimmt zwei Urprinzipien der Dinge, ein gutes und ein böses an, welche seit Ewigkeit im Konflikte liegen. Diese Anschauung etabliert, dass es noch etwas ausserhalb von Gott gäbe.

 

rte 'rtham yat pratiyeta

na pratiyeta catmani

tad vidyad atmano mayam

yathabhaso yatha tamah

 

"O Brahma, was immer von Wert zu sein scheint, besitzt keine Wirklichkeit, wenn es nicht mit mir verbunden ist. Wisse, dass es meine täuschende Energie ist, jene Widerspiegelung, die sich in Dunkelheit befindet." (Srimad Bhagavatam 2.9.34)

 

 

 

 

 

"Wenn sich das Lebewesen fälschlicherweise mit den materiellen Körpern identifiziert, in denen es sich jeweils befindet, vertieft es sich völlig in die äussere Energie des Herrn, verliert dadurch den Überblick für das Ganze, und wird in seiner Perspektive beschnitten.

Durch diese Selbstvergessenheit erkennt die Seele nicht mehr ihre eigentliche und wesensgemässe Beziehung zu Gott, vergisst diese sogar, sucht den Bezug in der peripheren Welt und beginnt, Angst zu haben." (Srimad Bhagavatam 11.2.37)

Diese Angst beruht aus dem Verständnis, dass es noch etwas Zweites gäbe neben der Kontrolle Gottes.

Der Hinweis auf dieses Vergehen will also letztlich die Angst, die von einem Dualismus erzeugt wird – im Verkennen des Zusammenhangs von Geist und Materie - , überwinden.

 

Man kann „shiva“ nicht nur als „glücksverheissend“ übersetzen, sondern darin auch die Persönlichkeit Shivas darin erkennen.

Dann ergibt sich wieder eine neue Bedeutung: Wenn jemand die Eigenschaften und Namen von Shiva als verschieden oder getrennt von Vishnu betrachtet, begeht er ein Vergehen gegen den Heiligen Namen.

Bhaktivinod Thakur schreibt in seinem Kommentar zur Brahma-samhita (Brahma-samhita-prakashini 5.45): „Shambhu (Shiva) ist nicht ein anderer Kontrollierer (ishvara) und ist nicht verschieden von Krishna. Wer zwischen ihnen einen Unterschied sieht (bheda buddhi), begeht ein Vergehen gegen den Höchsten Herrn. Shambhu’s Eigenschaft als Kontrollierer ist abhängig von der Kontrolle Sri Govinda’s. Aus diesem Grund sind sie ein Prinzip, das nicht trenn-und unterscheidbar ist (vastutah abheda-tattva).“

 


Im 12. Canto spricht Lord Shiva zu Markandeya Rsi:

"Du bist für mich verehrungswürdig. Du machst keinen Unterschied zwischen Sri Vishnu, Brahma und mir (Shiva), noch machst du eine Unterscheidung zwischen dir selbst und irgend einem anderen Lebewesen.“ (12.10.22)

 

Im Brhad Bhagavatamrta (BB 1.2.86) spricht Sanatan Goswami über die intime Beziehung zwischen dem Namen Vishnus und dem Namen Shivas:

„Zu denken, Siva und Krishna seien voneinander verschieden, ist eine ernsthafte spirituelle Abweichung.“

 

 

Aber die gängige oben zitierte Übersetzung des zweiten Vergehens ist problematisch, da sie viele potenzielle Missverständnisse erzeugt, die die ganze Perspektive der Spiritualität vernebeln könnte. Es ist eine Verzerrung dessen, was eigentlich gemeint ist. Aus der Perspektive der Befangenheit in eine bestimmte Sichtweise ergibt sich ein Gefangen-sein in kollektiv akzeptierten Irrtümern. Daraus ergibt sich eine starke Tendenz zu einer beschränkten Weltsicht im Namen der Religion und der Selbstverwirklichung.

 

Aus solchen teilweise missverstandenen und unverstandenen versimplifizierten spirituellen Grundlagen manifestieren sich Verhaltensweisen. Gerade im Bereich des Heiligen können sich ungesunde Glaubenssätze als erstaunlich selbstzerstörerisch und destruktiv darstellen und bis hin zu ekklesiogener Neurose (wie zum Beispiel religiöser Intoleranz) führen.

Was die religions-soziologische Folge eines immer wieder repetierten und kopierten Missverständnisses in der Gemeinschaft der Vaishnavas bewirkt, möchte ich dem Leser als Denkaufgabe überlassen.