Vismaya - über die Bereitschaft, sich überraschen zu lassen


Es ist tief in unserem Kulturgut verankert, dass der fremde Gast (hospes) als Feind (hostis) betrachtet wird. Das Unbekannte wirkt bedrohlich.

Selbst der Tod, der als Urangst hinter allen unendlichen Bedrohungen steht, ist letztlich nur eine Illusion, die Krishna denjenigen offeriert, die ihn ausblenden möchten. Das Leben und der Tod haben die kreatürliche Tendenz, nicht mit den Eigenerwartungen zu kooperieren. Für den Hingegebenen wird so alles zur Überraschung und macht ihn lebendig.

In der Bereitschaft zur Gotteshingabe darf man sich nun freudvoll in die Überraschung hineingeben, da man nun erkennt, in einer Welt zu leben, deren Urgrund es wirklich gut mit einem meint.

In der vedischen Kultur wird der unerwartete Gast als eine Manifestation Gottes verstanden (athiti yat bhagavan) und dementsprechend auch empfangen.

Wenn man ein Interesse hat, mit Realität Kontakt aufzunehmen, orientiert man sich nicht mehr nach alten Skripten, die einem angemessene Rollen zuwiesen, sondern lässt sich fallen in das unvorhersehbare Geschehen – Krishnas liebliche Führung nach Vraja.

Jeder, der bisher nichts anderes gemacht hat, als nach irgendwelchen Rollenbildern zu funktionieren, verfällt erst einmal in eine grosse Verunsicherung. Er weiss nicht mehr, wie er sich zu verhalten hat oder wer er sei. Die erfahrene und freiwillig zugelassene Orientierungslosigkeit ist der Raum, in welchem die Gnade übernehmen darf.

Ist der innere Weg auf dem Papier planbar? Kann man über die Beschaffenheit des inneren Weges Prognosen treffen? Ist es nicht schon ab dem nächsten Moment einfach nur eine reine Überraschung? Deshalb ist es ein Weg der Hingabe.

Wenn man das nicht einsehen will, verkonzeptionalisiert man diesen Pfad und es bleiben Gerüste übrig, über deren minimalen Unterschiedlichkeiten sich Fundamentalisten dann in den Haaren liegen.

Die  Voraussage liegt nie in der eigenen Kompetenz. Wenn man die Bemühung einstellt, dass die äussere Welt den eigenen Vorstellungen gemäss zu verlaufen hätte, dann darf das absolut Unvorhergesehene eintreffen. Diese Plötzlichkeit war nur dann ein Schrecken, wenn man die Orientierung im Bekannten nicht aufgeben wollte. Für denjenigen, der „Leben“ als Fixierung und Durchsetzung eigener Vorstellungen versteht, wird es zum aussichtslosen Kampf, der zwar sinnlos ist, aber nicht aufgegeben werden möchte und verbissen einfach weitergeführt wird.

Es ist das Lebenskonzept innerhalb der selbstvergessenen Ich-Rolle, auf seinen eigenen Vorteil bedacht zu sein. Aus der kindlichen Perspektive ist es nachvollziehbar, dass man gewinnen will. Aber diese naive Schaue kann nicht sehen, dass sich dieser augenscheinliche Gewinn aus höherer Sicht als Verlust erweisen wird. Die Orientierung an dem Eigenwohl, was ja erst die Wertung von angenehm und unangenehm, Erfolg und Fehlschlag generierte, vernebelt zudem die Ausrichtung auf Radha-Krishna. Selbst der allergrösste innerweltliche Erfolg vermag nie nur annähernd diese durch Selbstisolation generierte Leere zu kompensieren.

Man will an sicheren Orten leben. Möglichst weit entfernt von der vollständigen Verunsicherung des Unbekannten. Dass man dabei fast verkümmert, nimmt das weltidentifizierte Ich einfach so in Kauf. So weit geht das Sicherheitsdenken dieses Ichs.

Wenn man auch die Religion dafür benutzt, wird sie zur Macht der Stabilisierung der eigenen alten Strukturen und stellt nicht mehr eine Führung in die Gottesliebe dar, welche unberechenbare Überraschung ist. Sie hätte einen doch in die erstaunliche Wandlung begleiten können…

 

Wenn das Rollenspiel irgendwie ausgespielt ist und man ihm nicht mehr zu folgen vermag, gibt es zwei Handlungsoptionen: in Panik zu geraten ob der Ungesichertheit und irgendwie versuchen, die alte Skript wieder zusammen zu setzen. Der Suche nach Halt und Anfassbaren ist es zuzuschreiben, dass man sich in den Rollenspielen zu heimisch fühlt.

Die andere Möglichkeit ist, der Seele treu zu bleiben. Dieser Raum bleibt unversehrt, auch wenn alle Ungewissheit angenommen wird.

Erst wenn die Seele von Krishnas Nähe berührt wird, zerbröckelt das uralte Streben nach Sicherheit. Darin versuchte man ja nur, die inhärente Ewigkeit des Seins zu kompensieren.

Der  vergebliche Schonungs-Raum, der künstlich geschaffene Abstands-Raum des Sicherheits-Konzeptes, vermag nur schale Erfahrungen zu schenken, niemals aber die pochende Lebens-Intensität.

Das Gottesverhältnis bedarf aber der Kunst, das Unbekannte, das sich in jedem Augenblick in jede Himmelsrichtung verändern kann, mehr zu lieben als das bisher Bekannte. Ihm mehr liebende Aufmerksamkeit zu schenken als dem Sicherheits-Denken des Ich-Systems. Das ist der Beginn zur Hingabe.

Ein buddhistischer Mönch erzählte mir einmal, von einer Reise zu einem entlegenen Kloster in Ladakh, die er mit einem Gefährten unternommen hatte. Als sie zum Eingangstor kamen, sahen sie sich einem riesigen Wachhund mit gewaltigen Fängen und roten Augen gegenüber. Der Hund knurrte zornig und riss an seiner Kette, um sie anzugreifen. Als sie näher kamen sahen sie, wie im der Speichel aus dem Mund tropfte. Sie drückten sich an der Wand entlang, um gerade noch ausser Reichweite des Hundes zum Tor zu gelangen.

Plötzlich riss die Kette und der Hund raste auf sie zu. Er schrie auf und erstarrte vor Schreck. Sein Gefährte aber drehte sich um und rannte, so schnell er nur konnte – direkt auf den Hund zu. Der war so überrascht, dass er den Schwanz einzog und die Flucht ergriff.

 

Wir sind gefangen von gewohnheitsmässigen Reaktionsmustern. Die Freude am Neuen, die Angstlosigkeit aufgrund der Seelenverankerung, dürfen so tief in unser System eindringen, dass sie auch in den unerwarteten Situationen zu greifen beginnen und man gerade dann nicht einfach nur geistig erstarrt das tut, was einem die Konditionierung lernte.

 

Atma-nikshepa ist ein Bestandteil der Selbsthingabe (saranagati) und bedeutet wörtlich, „sich gänzlich in die Arme Krishnas hinein zu werfen“.

Unvorhersehbarkeit ist die Grundlage des spirituellen Lebens. Doch in dieser Hingabe zum wunderbaren Urgrund aller Existenz hat sie ihren Schrecken und Bedrohlichkeit verloren. Es ist jetzt zu einer immer neu überraschenden Aufgehobenheit geworden.

 

Gottesbezug ist nie eine psychologische Strategie der Lebensbewältigung. Dies wäre die Verinstrumentalisierung des Heiligen. In der Ergebung in die unbekannte Sphäre der Hingabe, wo nur noch die Haltung der Überraschung des sich gänzlich Gebenden regiert, öffnet man sich dem Geheimnis, welches Krishna einem immer schon offenbaren wollte.

Bhakti bedeutet, sich dem Unbekannten und Ungewohnten anheim zu stellen. Es ist ein diskontinuierliches Leben... das heisst: Überraschung. Der letzte Augenblick ist immer schon gestorben, wenn man ihn erlebt. Nie wird zurückgeschaut oder sich abgestützt auf das, was gewesen ist. Die Upanishaden sagen, dass Nostalgie ein grosser Feind auf dem inneren Weg sei.

Das Ungewohnte beschreibt die immer neue sprudelnde und überraschende Frische. Bhakti beinhaltet die Eigenschaften dessen, auf die sie gerichtet ist: Sri Krishna. Er ist nava-yauvanam (Brahma-Samhita 5.33), derjenige, welcher in jedem Moment gänzlich neu erscheint und den man ewiglich betrachten könnte ohne je zu denken, an ein Ende gekommen zu sein.

Wenn Bhakti das Ziel des Lebens geworden ist, darf man ihr auch zugestehen, dass sie das Leben völlig umstrukturiert. Überraschung ist die Grundlage von Rasa... (Alankara Kaustubha 5/7)
Ich habe den inneren Weg noch nie als das Begehen einer abgesteckten Wegstrecke verstanden.

Das zuvor noch völlig Unvorstellbare wird plötzlich so offensichtlich und wirklich, dass es wie unbegreiflich erscheint, dass man sein Leben ganz kurze Zeit zuvor daran vorbei navigieren konnte.

Der heilige Name heilt die Seele von bahir-mukhata, von ihrer Angewohnheit, auf die Bewegungen des feinstofflichen Körpers gerichtet zu sein.

In Seiner Gemeinschaft gelangt man zum Punkt, an dem sich die mentalen Funktionen aufzulösen beginnen. Nicht nur die Identifikation mit dem grobstofflichen Körper, sondern auch die Ablösung von Gefühlen, Weltanschauungen, und allen Identifikations-Rollen.

Es kommt einem nun alles unbekannt und neu vor. Krishna ist so anders als alle, die man je gekannt hatte. Diese unvorhersehbare, erstaunliche, liebliche Persönlichkeit ist gegenwärtig im heiligen Namen.