Zu-Ende-Denken

Affectus, qui passio est, desinit esse passio simulatque eius claram et distinctam formamus ideam

„Eine Gemütsregung, die ein Leiden ist, hört auf, ein Leiden zu sein, sobald wir uns von ihr eine klare und deutliche Vorstellung bilden, wohin sie uns weisen möchte.“

 

(Spinoza in „Ethik, 5. Teil, über die Macht des Geistes oder die menschliche Freiheit, Satz III)

 

 

Am Anfang des Bhagavatam finden wir eine spannende Szene, in der Dharma, die Verkörperung der Religion, in der Form eines Stieres blutend am Boden liegt. Gewaltsam wurden drei seiner Beine abgeschlagen (im Zeitalter des Kali werden dharmische Prinzipien zerrüttet).

König Pariksit, in dessen Königreich bis anhin noch keine Schmerzensträne vergossen wurde, kam erschüttert dazu, und sah ein niederträchtiger Mensch (Kali in personifizierter Form) mit einer blutigen Axt daneben stehen.

Pariksit fragt den Stier, wer diese Greueltat verübt hätte, und Dharma antwortet ihm:

 

"Es ist sehr schwierig festzustellen, wer mir dieses Leid gegeben hat."

"Einige würden sagen, das eigene Selbst sei Ursache von Glück und Leid, andere betrachten übermenschliche Wesen, karma, oder sogar den Zufall für verantwortlich." (SB 1.17.18-19)

 

Das ist die Art und Weise, wie Dharma, das Weltengesetz, die Religion in personifizierter Form, spricht.

Es bleibt nicht stehen beim Augenscheinlichen (nämlich dass ihm Kali die Beine abgeschnitten hat), sondern betont, dass hinter dem Offen-Sichtlichen jeweils tiefere Ursachen verborgen liegen.

 

Wenn wir den Pfad des Dharma beschreiten wollen, so ist das "Zu-Ende-Denken", das nicht an den äussersten Geschehnissen stehen zu bleiben, sondern dahinter zu gelangen, von grösster Wichtigkeit. Es lehrt uns, nicht einfach an den Geschehnissen im eigenen Leben und den Phänomenen (spätlat. phaenomenon= Lufterscheinung) der Welt zu kleben zu bleiben, und sie dann noch in das Gut/Schlecht-Muster des eigenen Geistes einzuordnen. Dharma beurteilt nicht die Momentaufnahme einer Situation, sondern nimmt sie nur still wahr, ohne von alten Mustern gezwungen darauf zu reagieren. Das gibt erst einmal den inneren Raum und die Freiheit, herauszuspüren, was für wertvolle Geschenke Gottes in den Lebenssituationen versteckt liegen, und was für tiefere Gemütsstimmungen ihnen zu Grunde liegen, die einen wieder auf seine letztliche Beziehung zu Gott hinweisen.

 

Wenn in der alten christlichen Tradition der Wüstenväter von apatheia, dem bewältigen der Leidenschaften, gesprochen wird, dann war ihr Augenmerk nicht primär nur auf die Sinneskontrolle gerichtet, sondern vielmehr auf innere Aufrichtigkeit und Herzenstreue zu Gott. Denn diese freudvolle positive Hinwendung auf das letztendliche „Du“ Gottes bewirkt erst die Transformation des Herzens (Bhagavad Gita 2.59). Die Verneinung und die Verdrängung instinktiver Kräfte führen nicht in spirituelle Freiheit, sondern in die Neurose und Zerrissenheit.

Patanjali beschreibt in seinem Grundlagenwerk des Yoga, dem Patanjali-Yoga-Sutra, das Zu-Ende-Denken aller Sehnsüchte als die Auflösung und Entwurzelung alles Leiden (PYS, 2.10).

 

Das Zu-Ende-Denken aller Antriebe enthebt einen von dem religiösen Dilemma. Auf der einen Seite erlebt der Mensch Grundantriebe, die ihn zum Leben hin einladen (Freude, Liebe, Sexualität, Weltumarmung, Besitzstreben) und auf der anderen Seite hat die Religion diese als gefährlich und bedrohend identifiziert und den Menschen in recht rigide moralische Einmantelungen gehüllt.

Wir haben erlebt, wie Religion lebensfeindlich und lebenstötend wirken kann und haben uns von ihren Einschüchterungen und krankmachenden Einschränkungen distanziert.

Die moderne säkulare Gesellschaft hat sich dann gänzlich den Antrieben gewidmet und die gähnende Leere einer Kultur der Sinnesstimulation erfahren müssen, die Befriedigung für Zufriedenheit gehalten hatte.

Das Zu-Ende-Denken aller Tendenzen würgt nicht einfach nur den Impuls ab, sondern lässt in zu, lädt ihn ein, nimmt ihn an, lebt ihn aber nicht einfach nur aus, sondern fragt ihn, wohin er einen denn wirklich führen und worauf er einen verweisen möchte. Er ist ein Hinweis auf ein tieferes in der Seele inhärent angelegtes Grundbedürfnis.

Jeder Mensch in dieser Welt strebt nach Güter-Ansammlung. Nun kommt die Religion als moralisches Regulativ und verurteilt diese selbstsüchtige Tendenz. Schon ist man im Widerstreit mit der aufgesetzten Einschränkung der heiligen Tradition und dem Impuls aus der eigenen Psyche.

Dieser Zwiespalt hat dann einerseits in die religiöse Heuchelei geführt, wo man zwar äusserlich der Erwartung folgt, innerlich sich aber davon löst und ein gänzlich anderes Leben führt. Andererseits war der Druck moralisch / religiöser Erwartung für viele zu anstrengend, sodass sie sich von dem religiösen System loslösten. Das war anfänglich sicherlich erleichternd, doch man merkte auch, dass man sich damit von einem letztlich gegebenen Sinnhorizont einer transzendenten Weltanschauung isoliert hatte.

Das Zu-Ende-Denken lädt den Antrieb nach Besitz ein, und würgt ihn moralisch nicht gerade ab durch heilige Formeln („du sollst einfach leben“). Aber man agiert ihn auch nicht aus, sondern kehrt in sich und fragt ihn, worauf er einen denn verweisen möchte.

Im Yoga wird gelehrt, dass die Tendenz nach Besitz eigentlich Ruhe und Stille sucht, denn man glaubt, wenn man sich endlich einmal alles besorgt hätte, dass dann Stille einkehren würde. Natürlich tritt das nie ein. Das Streben nach Besitz besetzt einen noch mehr und Bedürfnisse können nie gestillt werden (Bhagavad Gita 3.39).

Im Zu-Ende-Denken der Sehnsucht aber erkennt man, dass man ja eigentlich etwas gänzlich anderes sucht und diese Erkenntnis erübrigt das Kompensations-Streben auf der weltlichen Ebene.

 

Das Zu-Ende-Denken bedeutet, dass man sich in die drei menschlichen Grund-Nöte hineinfallen lässt, und von ihnen auf etwas Grundsätzlicheres verwiesen wird:

 

1. Angst vor der Zerstörung

Ein Grossteil menschlicher Energie wird aufgewendet, um sich abzugrenzen gegen den Fluss der Zeit, welcher alles verschlingen will. Aber anstatt sich ein Leben lang gegen jeglichen Zerfall zu stemmen, lädt das Zu-Ende-Denken ein, sich dieser Angst zu stellen und zu schauen, worauf sie einen verweisen möchte.

Sicherheit in der äusseren Welt sucht Stille und die Aufgehobenheit der Ewigkeit. Dann wird einen diese Angst auf die eigene ewige Identität verweisen.

 

2. Verzweiflung vor dem Absurden

Niemand will einfach nur für nichts gelebt haben. So generiert man sich seinen selbstgemachten Sinn.

Es ist aber nicht die eigene Aufgabe, die natürlich fliessenden Umstände der Umgebung zu bewerten – sie abzuwerten oder aufzuwerten und darin Minderwert und Stolz zu erleben. In der Haltung des Ergebens zu Gott erkennt man den inhärenten Sinn von allem in allem durchleuchtend und das Zerrbild abgetrennter Wahrnehmung ist entschwunden.

Man glaubte als Mensch lange Zeit, dass es die eigene Aufgabe sei, den Mitwesen, der Welt, der Umgebung, dem Leben und Gott einen Wert zuzuschreiben, indem man sie be-wertet. Man ist wie besetzt von der Idee, allem einen Wert anzuheften, da es sonst keinen hätte.

Das Leben hat aber einen Wert in sich und man muss nichts tun, um ihm aufgesetzt eine Bedeutung zuzuschreiben. Macht und Einfluss suchten Sinn. Dieser entsteht nicht künstlich durch Beruf, Karriere oder innerweltlich erworbene Scheinsicherheiten, sondern ist gegeben als Existenz meiner ewigen Seele und ihrer angelegten Beziehung zu Gott.

Im Zu-Ende-Denken lässt man sich in diese Verzweiflung hineinfallen und von ihr zum inhärenten bereits bestehenden Sinn hinleiten – der Absicht Gottes in allem.

 

3. Trostlosigkeit der Einsamkeit

Um dieser zu entgehen, bindet man sich an Menschen in der Hoffnung, nicht verlassen zu werden. Man zelebriert das kleine Wohlfühlglück. Im eng abgesteckten Garten des eigenen Ich existiert aber nur Unerfülltheit. Das Zu-Ende-Denken möchte sich ganz stellen und sich in die Grundnot hineinfallen lassen. Dann erahnt man ein inneres unzerstörbares Glück. Ein Glück, aus dem man als Seele besteht und das nicht von Spass und Schmerzen beeinflusst wird.

Anstatt sich Leben für Leben nur gegen die Grundnöte zu wehren und mit unzähligen Lebensarrangierungen sich ihnen entgegenzustellen, lädt die Praxis des Zu-Ende-Denkens ein, sie genauer zu betrachten und sich von ihnen auf die eigene Ewigkeit (sat), die eigene Bedeutung und Sinnhaftigkeit (cit) und die inhärente in einem angelegte Glückseligkeit (ananda) verweisen zu lassen.

 

Ich möchte diese wichtige spirituelle Praxis des "Zu-Ende-denkens" an einigen Beispielen skizzieren.

 

Zweifel:

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Wenn ich alleine beim Rezitieren der Heiligen Gottesnamen verweile, dann kommen manchmal Zweifel:

"Stimmt denn das alles, was ich mir von Krishna denke, oder ist es nur Hoffnung, Projektion, Einbildung?

Stelle ich mir das so vor, weil es schön ist, weil ich damit besser leben kann, und weil ich sonst keine Aufgabe und Lebensinhalt mehr hätte?

 

Wenn Zweifel auftauchen, so müssen sie nicht gerade geklärt und beantwortet werden. Nur die religiöse Unsicherheit will vorschnell immer Lösungen und begnügt sich alsdann mit vereinfachten Lösungen. Echtes Vertrauen soll so stark sein, dass es auch die grössten In-Frage-Stellungen und Zweifel aushalten kann und darf. Wahrheit scheut genauere Untersuchung nicht, sondern setzt sich ihr aus.

 

"Ja, es kann sein, dass alles nur Einbildung ist, dass alle religiöse Literatur der Ausweichversuch vor dem Nichts ist, die Beruhigung des Menschen, ein gebastelter menschlicher Erklärungsversuch, einer sinnlosen Existenz eine Bedeutung zuzuschreiben."

 

Im Zulassen wird auch der Zweifel kritisch untersucht und relativiert. Oft aber gehen wir mit den Infragestellungen anders um: sie werden sofort verdrängt, denn man möchte ja glauben und es für wahr haben. Sicherheit ist einem oft wichtiger als Wahrheit. Damit verdrängt man den Zweifel und die eigene Skepsis in das Unbewusste, und spaltet sich somit ab von einem Teil des eigenen Selbst.

 

Doch wenn alle Ungewissheit und Zerwürfnisse eingeladen werden, selbst die existentiellsten Zweifel, und zu Ende gedacht werden, erkennt man, dass man eigentlich tiefere Erkenntnis als nur oberflächliche Bekenntnisse sucht. Der Zweifel treibt einen in die wirkliche Auseinandersetzung mit dem Göttlichen.

 

Dieser Ausschluss des Zweifels aus dem Feld des Heiligen führt zu einer Verkrampftheit in religiösen Anschauungen. Und weil aufgeweckte Menschen unserer Zeit die blinde Glaubenslast nicht mehr tragen möchten, hat es sie in die religiöse Gleichgültigkeit getrieben. Wenn die Zweifel nicht willkommen waren, dann nimmt man halt Abstand von dem Bereich, welchen man so sakrosankt und erhaben nicht sehen konnte.

Nachdenkverbote und Nichteinladung von kritischem Hinterfragen sind nicht vereinbar mit der radikalen Wahrheitssuche.

 

Im Willkommenheissen sämtlicher Zweifel und durch die vertiefte Auseinandersetzung mit ihnen taucht eine innere Gewissheit auf, welche viel substanzieller ist als übernommene Glaubensgerüste.

Der Zweifel hat einen in die Vertiefung geführt.

Man beginnt wahrzuhaben, dass alle Heiligen nicht einfach Illusionen nachgelaufen sind, dass alle Kultur nicht nur Nervenberuhigung ist, und dass alles "Leben" nicht einfach ein kurzes Aufschreien in ein ewiges Nichts ist.

Gottes lenkende Hand, das heisst inhärenter Sinn, wird erkennbar.

 

Wenn man aber die Zweifel, selbst die Option der völligen Absurdität zulässt, beginnt sich nicht nur diese innere Gewissheit zu manifestieren, sondern dann entscheidet man sich ganz bewusst für die Ergebenheit zu Gott, für den Seva zu Radha Krishna.

„Ich möchte die Karte meines Lebens auf selbstverwirklichte Heilige setzen, die die Wahrheit gesehen haben, und nicht auf Skeptiker, die in der Absurdität des Daseins eine Lebensphilosophie finden.“

 

Dann ist einem der Zweifel zu einer Erneuerung seines Glaubensverständnisses  geworden; er hält einen auf der Suche nach dem wahren Gott lebendig, und hilft einem, sich nicht vorschnell mit seiner Beziehung zu Gott zufrieden zu geben, sondern ein wirklicher Suchender zu bleiben.

 

Angst:

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Oft bitten wir Gott darum, uns von unserer Angst zu befreien. Doch genau in diesem Gebet möchte man der Begegnung mit seiner Angst aus dem Weg gehen. Man will einfach eine Abkürzung bekommen, sodass man sich nicht mit seiner Ängstlichkeit auseinander zu setzen braucht. Eigentlich instrumentalisiert man damit Gott, da man ihn wie ein Wundermittel einsetzen möchte. Wenn alles andere nicht mehr funktioniert, und alle scheinbaren Sicherheiten sich aufgelöst haben, wendet man sich einfach Gott zu, der den alten Zustand wiederherstellen soll. 

Je mehr wir aber bitten, von der Angst befreit zu werden, desto mehr sind wir darauf fixiert. sada tad bhava bhavitah (Bhagavad Gita 8.6) „Die innere Ausrichtung wird zu einer Realität in dem Masse, wie man ihr die Aufmerksamkeit schenkt.“

 

Das "Zu-Ende-denken" bedeutet, dass man die Angst zulässt und sie sich in aller Ruhe erlaubt. Somit wird sie an das Tageslicht seines Bewusstseins befördert. All diese dunklen Wesensanteile haben die inhärente Eigenschaft, dass sie alleine dadurch bereits einschrumpfen, und meist unbedeutend klein werden.

 

Das Zulassen lässt einen erkennen, dass man Angst hat vor dem Versagen, Angst, sich vor anderen zu blamieren, und Angst vor Krankheit und Sterben und vor allem vor dem Schmerz, der in ihnen wohnt.

Man rennt immer weg vor dem Angstgebilde und glaubt, dass es sehr es sehr bedrohend sei.

 

Im Zulassen und Einladen erlaubt man es sich, sich vorzustellen, wie es denn wäre, wenn man sich blamieren würde. Man erlebt oft eine Erleichterung, wenn nur schon in der Vorstellung der Stolz gebrochen wird, da man erkennt, dass man sich ja vor niemandem zu beweisen braucht. Da Krishna das eigene heimliche Scheitern ja längst schon vor einem selber kennt, braucht man vor ihm auch nichts zu verbergen. Und vor allem: Bei ihm braucht man sich nicht zu fürchten, dass er einen aufgrund der Kleinheit und Unfähigkeit und vielleicht sogar wegen der eigenen Unattraktivität verlassen würde. Er wartet nur darauf, bis dass man es vor ihm nicht mehr verheimlichen will, und die Kapitulation ihm zu Füssen legt. Daraus erfolgt nicht die Ausbeutung, wie wir es von dieser Welt gewohnt sind, sondern die zärtlichste Umarmung. Das ist die erlebte Erleichterung, wenn man sich von allen Selbstbildern entblösst (trnad api sunicena...).

 

Im Zulassen erlaube ich es mir, mir vorzustellen, wie es denn wäre, wenn ich durch einen Unfall umkommen würde.

In dem ich in das Gefühl der Angst hineingehe und durch die Emotion hindurchgehe - auf Krishna hin, kann ich sie relativieren. Man akzeptiert, was in einem ist, ohne gerade in den Kampf gegen die Emotion ziehen zu müssen, und legt sie ganz nüchtern Krishna dar. Um diese Öffnung Krishna gegenüber geht es doch in der gesamten Gebetspraxis, und nicht um unsere Gesundheit und die körperliche Unversehrtheit, die sowieso nie gesichert ist.

Dann führt mich diese Emotion sogar auf Gott hin. Ich spüre, wie sehr ich ohne die Verbindung zu Krishna auf einem ganz dünnen Eis gehe....

 

Ich habe Angst vor der Krankheit, obwohl ich natürlich keine Garantie habe, dass mich selbst das frömmste Leben und alle Gebete davor bewahren würden.

 

Wir glauben, wir seien so beschäftigt, unsere kleine Welt gegen das Damokles Schwert des drohenden Verlustes zu verteidigen. So versucht man, sein kleines Reich und sein Glück, seine Familie, Gesundheit und Besitz zu verteidigen - mit  viel Hoffnung. Und das Schlimmste ist, dass man im tiefsten Ort in einem weiss, dass man den drohenden Verlust gar nicht verhindern kann, und dass der Kampf vergeblich ist. Es ist nur ein Herauszögern der Konfrontation mit dem Unvermeidlichen: dass man sowieso alles verlieren wird.

 

So geht man in der Vorstellung in die Krankheit hinein und begegnet in dieser Krankheit seinem eigentlichsten Gegenüber. Gerade die Ohnmacht, die man gegenüber seiner Angst und gegenüber einer eventuellen Krankheit und körperlichem Versagen spürt, kann einen innerlich aufbrechen.

 

Im "Zu-Ende-Denken" kämpft man nicht gegen die Angst, denn das würde nur dahinzuführen, dass ich vermehrt mit ihr beschäftigt bin (dhyayanto..sangas tesupajayate- Bhagavad Gita 2.62). Man lässt sie zu, ohne sie in unsere Sympathie/Antipathie Muster einordnen zu müssen, und ohne die vorbeiziehenden Phänomene gleich zu werten (dies ist, was Krishna "titiksavata" nennt – Bhagavad Gita 2.14). Man erhält so einen inneren Raum, in welchem man zu erspüren vermag, auf was einen die Angst denn eigentlich hinweisen möchte. Sie ist das Symptom dafür, dass man sein Selbstgefühl ins Unwirkliche verlagert hat. Jede Selbstplatzierung ausserhalb der Seele wird Angst gebären. Somit geht es nicht darum, kleine Symptomkorrekturen an der Oberfläche des Lebens zu tätigen, sondern sich wirklich in seiner eigentlichen Identität zu verankern. Das Vergessen seiner selbst erzeugte die Ersatzidentität in der Materie, und diese ist ständig bedroht und somit ist Angst die ständige Erfahrung.

Mitten in seiner Angst wird man dann auf einmal einen tiefen Frieden und Vertrauen spüren, da man erkennt, dass man in Krishnas Händen ganz zärtlich aufgehoben ist - und auch viel sicherer als in dem Wahn, sich selber kontrollieren zu können. Die Angst war nur eine Anzeige, ein Alarmsignal, da man tieferliegende Emotionen ignoriert hat. Wenn man wieder darauf hört, dürfen die Kompensationen weichen.

 

 

Das Bhagavatam antwortet auf die Frage, wie man den Geist zu kontrollieren vermag:

mano-gatim na visrijej (11.20.20)

 „Man behält die Perspektive für das eigentliche Ziel aller mentalen Aktivitäten ständig wach.“

 

Meine Wünsche und Bedürfnisse:

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Manche Menschen beklagen sich, dass sie keinen Partner/Partnerin finden können, und wollen nun Gott die Verantwortung dafür zuschieben. Aber dann sind sie enttäuscht, da der Wunsch in dieser Welt nicht in Erfüllung gehen kann, jedenfalls nie voll- und be-ständig.

 

Das "Zu-Ende-Denken" lässt die Wünsche zu. Man gibt vor Gott zu, dass man sich nach Freundschaft und Partnerschaft sehnt. Und dann stellt man sich vor, wie es wäre, wenn man eine Freundin oder einen Partner hätte. Wären dann alle seine Wünsche erfüllt? Wäre man am Ziel seiner Sehnsucht angelangt?

Indem man den Wunsch zulässt und zu Ende denkt, relativiert er sich. Dann sieht man nicht nur den romantischen Teil seines Wunsches. Wenn man ihn in die nüchterne Realität hineinstellt, verliert er das Bedrückende.

Aus dieser Distanz sieht man die Muster, die einen bisher bestimmt haben:

"Ganz unbemerkt, ohne dass es einen aufgefallen wäre, ist aus der Erfüllung des einen Wunsches bereits die Unerfüllung eines nächst anstehenden Wunsches geworden. Das hat man gar nicht bemerkt. Man hat die eigene Unzufriedenheit und Unerfülltheit nur verlagert.

So arbeiten die unendlichen Ketten von unerfüllten Wünschen, die nichts anderes tun, als sich - in dem Moment, wo ein Wunsch aus dieser unerfüllten Kette scheinbar erfüllt wird - auf eine andere Ebene verlagern."

 

Dann erkennt man, dass man bei aller Sehnsucht nach Freundschaft in der Welt auch danach streben darf, in Radha Krishna seinen Urgrund zu finden. Sonst wird die Sehnsucht jeden Menschen überfordern und ins Leere gehen.

 

Im "Zu-Ende-Denken" erkennt man, dass all diese Wünsche und Bedürfnisse, nicht einfach abgeschnitten werden sollen, denn dies wäre die Garantie dafür, dass sie alle ständig wiederkämen. Sogar in verstärkter Form.

Man braucht sich die Vorstellungen nicht gleich zu verbieten, sondern man spielt sie zu Ende, aber aktiv. Man lässt sich nicht einfach von seinen Hoffnungen wegtragen (dies ist das Glück in der Erscheinungsweise der Unwissenheit - und würde ihre Wirkungsweise in einem nur erhöhen Bhagavad Gita 18.39), sondern man lenkt sie selber, indem man sich fragt, was man denn eigentlich sucht, wenn man dies begehrt und wenn es einen in der Phantasie dahin drängt.

Ist dies nicht ein Bild für etwas anderes? Ist es realistisch oder verklärt man da seine Bedürfnisse? Ist das überhaupt möglich, was man sich da ausmalt? Wofür sind diese Phantasien Ersatz?

Im "Zu-Ende-Denken" werden seine Bedürfnisse befreit von der Überfrachtung durch die zu hohen Hoffnungen. Das genaue und bewusste Wahrnehmen der Diskrepanz zwischen seinen Erwartungen und Hoffnungen und dem effektiv Erlebten fördert den Wunsch nach einer umfassenderen Freiheit.

 

 

Das Ringen um die Überwindung einer Schwäche

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Ich kenne Menschen, die Krishna darum bitten, sie von ihrem Jähzorn zu befreien, dass Er ihnen doch ihre Empfindlichkeit nehmen möge und sie überhaupt von schlechten Eigenschaften befreit würde.

Sie denken, wenn Krishna dies täte, dann wäre alles gut.

 

Das "Zu-Ende-Denken" geht nun in die Vorstellung ein, wie es denn wäre, wenn man immer ausgeglichen, und keine empfindlichen Stellen und schlechten Eigenschaften mehr hätte.

Wäre man dann spiritueller? Gottgefälliger und auf der Spur echter Lebendigkeit? Ist Krishna an meiner moralischen Integrität interessiert oder einfach nur an einem selber?

Vielleicht würde Selbstgefälligkeit über einen kommen und einen nicht mehr wirklich auf Krishna hinzutreiben. Somit würde man stehen bleiben...

Geht es einen bei der Erfüllung dieser Wünsche um sein Selbstwertgefühl oder wirklich um Radha Krishna?

Hindert einen seine Empfindlichkeit und seine schlechten Eigenschaften oder treiben sie einen nicht vielmehr auf Krishna hinzu?

 

Wenn man diese persönlichen Nöte, seine Schuldgefühle, seine Selbstvorwürfe zu Ende denkt, dann relativieren sich die Probleme. Ich spüre dann, dass weder die eigenen Schattenseiten, noch seine Empfindlichkeit einen von Krishna wirklich trennen können (was natürlich nicht bedeutet, dass man sich nicht auch um deren Überwindung bemüht).

Im "Zu-Ende-Denken" nimmt man auch wahr, dass genau die eigenen Schwächen einen mehr auf Gott hin lebendig halten als die moralische Souveränität.

Und dann erahnt man eine innere Freiheit von allem Druck, in welchem bisher oft nur der "Geist der Überforderung" innewohnte.

 

Wenn man all diese Aspekte in einen ganz neutral zulässt, wenn man damit rechnet, dass sich andere Eigenschaften als die im heiligen Leben erwünschten in einen regen, gelenkt von Gewohnheiten, die man in unzähligen Leben sich angeeignet hat, dann verliert man das Vertrauen nur in das eigene Vermögen. Tiefe Demut wird geboren. Wenn man sich von ihnen immer wieder auf Krishna hin ausrichten lässt, dann haben sie eine positive Bedeutung. Sie erinnern einen vielmehr immer neu daran, dass nicht die moralische Perfektion, sondern allein die Hingabe an Radha Krishna Ziel des Lebens darstellt. Aber diese Sehnsucht wird sich nur von Gott selber ausfüllen lassen, wenn man seinen schlechten Eigenschaften nicht einfach nachgibt, und sie als Naturnotwendigkeit hinstellt, sondern wenn man sein verwundetes Herz Krishna hinhält, damit er es heile und mit seiner Liebe erfülle.

Indem man die Gedanken zu Ende denkt, und sie bis in alle Konsequenzen hinein ausmalt, nimmt man ihnen die Kraft, mit der sie uns überwältigen wollen.

In der Bhagavad Gita rät uns Krishna (yukta-svapnavabodhasya 6.17) die Mitte zwischen Askese und Zügellosigkeit.

Die Praxis des "Zu-Ende-Denkens" will weder sich von den Schattenseiten und den eigenen Wunden bestimmen lassen, noch sie einmal mehr in die Verbannung des Unterbewussten hineindrücken, sondern die spirituelle Ursehnsucht, das echte Schreien des ewigen Lebewesens durch all die Verhüllungen unserer weltlichen Identität hindurch wieder spürbar werden lassen, um dadurch die Zwänge der Oberfläche zu entaktivieren.

 

Das Zu-Ende-Denken enthebt die Seele vom Kampf gegen die Phänomene der Welt und eröffnet ihr den Zugang zu den wesentlichen Bedürfnissen ihrer selbst.

Im Bhagavatam steht: „Ich sehe, o Bhagavan, für den Menschen, dessen Herz unter der dreifacher Qual auf seinen Wegen durch die Wandelwelt leidet, keine andere Zufluchtstätte als den Schutz und Schirm der Lotosse Deiner Füße, denn von dort entströmen die Regenmengen des Amritam (der Unsterblichkeit).“

Die eigene Unvollkommenheit darf vor ihm Ausgehalten und zu ihm Hingehalten werden. Aus der erfühlten eigenen Fehlerhaftigkeit wird aufrichtige Demut geboren, die auch als die „Mutter von Gottesliebe“ bezeichnet wird und Krishnas Gnade anzieht.

 

 Aus diesem Punkt wandelt sich die eigene Unvollkommenheit in einen Hinweis auf das effektiv Kostbare – auf die Beziehung zu Gott.

 

 

 

Ärger

Man nimmt ihn an, spricht mit ihm, anstatt sich über ihn zu ärgern. Man fragt ihn, was er denn einem eigentlich mitteilen möchte.

Der Ärger zeigt ja oft, dass man die eigenen Grenzen nicht gut beachtet hat. Man hat anderen zu viel Macht über sich gegeben.

Man hat das Mass überschritten, in der Arbeit und im Engagement für andere.

Der Ärger weist darauf hin, dass man sich wieder zurück nehmen sollte.

Man darf sich aussöhnen, dass man nicht unbegrenzt belastbar ist.

Man fragt nach, wogegen man eigentlich rebellieren musste. Ist vielleicht die gesamte Lebensweise entgegen den inneren Überzeugungen? Hat man sich in etwas hineinziehen lassen, was man gar nicht wollte?

In Bhakti ist das, was zuvor als Hindernis zur Erleuchtung galt, nun plötzlich ein Teil des Weges. Denn jede innere Regung wird nun als Manifestation der Gottsuche verstanden.

Der Ärger und Zorn werden angenommen und befragt, wohin sie einen denn letztlich verweisen möchten. „Zur Klarheit“

Stolz und Arroganz transformieren sich in ihrer Annehmung in das Gefühl kosmischer Verbundenheit.

Das Hineingehen in die Leidenschaft, in heftige Gemütserregung und die heftigen Neigungen zur Vorliebe verwandelt diese in den Gleichmut. Alles wird in den Pfad zu Gott hineingenommen.



Rückert hat einmal über die Zeit geschrieben:

"Was ist das hinter ihr, vor dem sie nimmt die Flucht;
Und was das ausser ihr, nach dem sie ewig sucht?"

Das ist dieser Krishna.... ausserhalb der Zeit und alle Wesen innerhalb der Zeit, ja jede Bewegung in der Zeit, sucht eigentlich ewiglich und ausschliesslich nach ihm...
Und in Vrindavan sitzt dieser Krishna, auf den jede Sehnsucht in allen Welten hinzielt, vor dem Kunja und weint nach Radhika....
Wie wunderbar ist doch dieses Vraja-Vrindavan?